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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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reichlich gethan. Diese Stücke bilden eigentlich eine
Mittelgattung zwischen Trauer- und Lustspielen. Sie
beginnen wie ein Trauerspiel und enden wie ein Lust¬
spiel. Der Held oder die Heldin wird eine Weile
geängstigt und dann endet doch alles nach Wunsch.
Früher herrschte darin mehr Empfindsamkeit und man
suchte dem Publikum nur weiche Thränen zu entlocken,
jetzt herrscht darin mehr Grausamkeit und man sucht
durch Grausen und Schrecken und den darauf folgen¬
den fröhlichen Ausgang lebhafte Contraste in den Em¬
pfindungen hervorzubringen. Die sanfte Rührung ist
indeß hier immer besser am Platz, als der Schrecken,
den man nie unnütz mißbrauchen soll. Es ist eine
wahre Barbarei, erst die Grausamkeit auf den höch¬
sten Gipfel steigen zu lassen, um sich recht an ihrer
Wollust zu letzen, und dann wieder die Wollust der
Gnade und Versöhnung damit abwechseln zu lassen.
Man will den Genuß eines Türken und Cannibalen
mit dem eines guten Christen und Menschenfreundes
paaren. Bald bringt man in das rührende Melo¬
drama einen falschen allzutragischen Ton und mi߬
braucht das Entsetzliche, bald bringt man in das
echte Trauerspiel einen falschen allzumilden Ton und
mißbraucht das Mitleid. Man scheut sich sogar nicht,
die besten tragischen Stoffe deßfalls umzuarbeiten und
da wo der Tod und die Strafe als nothwendiger
Schluß des tragischen Ganzen eintreten soll, plötz¬
lich Gnade und eine Hochzeit eintreten zu lassen.

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reichlich gethan. Dieſe Stuͤcke bilden eigentlich eine
Mittelgattung zwiſchen Trauer- und Luſtſpielen. Sie
beginnen wie ein Trauerſpiel und enden wie ein Luſt¬
ſpiel. Der Held oder die Heldin wird eine Weile
geaͤngſtigt und dann endet doch alles nach Wunſch.
Fruͤher herrſchte darin mehr Empfindſamkeit und man
ſuchte dem Publikum nur weiche Thraͤnen zu entlocken,
jetzt herrſcht darin mehr Grauſamkeit und man ſucht
durch Grauſen und Schrecken und den darauf folgen¬
den froͤhlichen Ausgang lebhafte Contraſte in den Em¬
pfindungen hervorzubringen. Die ſanfte Ruͤhrung iſt
indeß hier immer beſſer am Platz, als der Schrecken,
den man nie unnuͤtz mißbrauchen ſoll. Es iſt eine
wahre Barbarei, erſt die Grauſamkeit auf den hoͤch¬
ſten Gipfel ſteigen zu laſſen, um ſich recht an ihrer
Wolluſt zu letzen, und dann wieder die Wolluſt der
Gnade und Verſoͤhnung damit abwechſeln zu laſſen.
Man will den Genuß eines Tuͤrken und Cannibalen
mit dem eines guten Chriſten und Menſchenfreundes
paaren. Bald bringt man in das ruͤhrende Melo¬
drama einen falſchen allzutragiſchen Ton und mi߬
braucht das Entſetzliche, bald bringt man in das
echte Trauerſpiel einen falſchen allzumilden Ton und
mißbraucht das Mitleid. Man ſcheut ſich ſogar nicht,
die beſten tragiſchen Stoffe deßfalls umzuarbeiten und
da wo der Tod und die Strafe als nothwendiger
Schluß des tragiſchen Ganzen eintreten ſoll, ploͤtz¬
lich Gnade und eine Hochzeit eintreten zu laſſen.

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[267/0277] reichlich gethan. Dieſe Stuͤcke bilden eigentlich eine Mittelgattung zwiſchen Trauer- und Luſtſpielen. Sie beginnen wie ein Trauerſpiel und enden wie ein Luſt¬ ſpiel. Der Held oder die Heldin wird eine Weile geaͤngſtigt und dann endet doch alles nach Wunſch. Fruͤher herrſchte darin mehr Empfindſamkeit und man ſuchte dem Publikum nur weiche Thraͤnen zu entlocken, jetzt herrſcht darin mehr Grauſamkeit und man ſucht durch Grauſen und Schrecken und den darauf folgen¬ den froͤhlichen Ausgang lebhafte Contraſte in den Em¬ pfindungen hervorzubringen. Die ſanfte Ruͤhrung iſt indeß hier immer beſſer am Platz, als der Schrecken, den man nie unnuͤtz mißbrauchen ſoll. Es iſt eine wahre Barbarei, erſt die Grauſamkeit auf den hoͤch¬ ſten Gipfel ſteigen zu laſſen, um ſich recht an ihrer Wolluſt zu letzen, und dann wieder die Wolluſt der Gnade und Verſoͤhnung damit abwechſeln zu laſſen. Man will den Genuß eines Tuͤrken und Cannibalen mit dem eines guten Chriſten und Menſchenfreundes paaren. Bald bringt man in das ruͤhrende Melo¬ drama einen falſchen allzutragiſchen Ton und mi߬ braucht das Entſetzliche, bald bringt man in das echte Trauerſpiel einen falſchen allzumilden Ton und mißbraucht das Mitleid. Man ſcheut ſich ſogar nicht, die beſten tragiſchen Stoffe deßfalls umzuarbeiten und da wo der Tod und die Strafe als nothwendiger Schluß des tragiſchen Ganzen eintreten ſoll, ploͤtz¬ lich Gnade und eine Hochzeit eintreten zu laſſen. 12 *

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/277>, abgerufen am 25.11.2024.