Die melancholischen Lieder drücken ge¬ wöhnlich allgemeine Stimmungen der Sehnsucht des Leidens und der Trauer aus, oder auch die Empfin¬ dungen bei besondern ernsten und traurigen Anlässen. Die wahre Melancholie entspringt in der Seele ohne allen äussern Anlaß und sucht sich selbst ihren Gegen¬ stand. Die Jugend hat ihre melancholische Periode, und da die Jugend am meisten lyrisch ist, so sind auch die meisten lyrischen Gedichte von der melancholischen Art. Die sentimentale Naturbetrachtung und die Klagen der Liebe bilden den Hauptinhalt dieser Ge¬ dichte. Sie sind natürlich und rührend, wenn die Empfindung wahr ist, und die Gränzen nicht über¬ schreitet. Es giebt aber auch eine Menge Lieder, worin theils eine gekünstelte Empfindsamkeit, theils eine übermäßige, feige, weibische Weinerlichkeit herrscht. So finden wir bei Matthisson, Tiedge, Ko¬ segarten viel zu viel Reflexion, gelehrte Citate, ab¬ sichtliche Zierlichkeit und viel zu genaues Ausmalen. Man sieht, daß die Dichter selbst weniger empfun¬ den, als gedacht haben, und sie wecken daher auch weniger Empfindungen, als sinnliche Vorstellungen und Gedanken. Diese Dichter wollen aber dennoch voll tiefer Empfindung erscheinen, und übertreiben daher den Ausdruck derselben. Sie tauchen die Fe¬ der in den ewig rinnenden Thränenzuber der elegi¬ schen Wehmuth und nehmen einen gewissen winseln¬ den Klageton an, den wir höchstens bei einer un¬ glücklichen Louise Brachmann natürlich finden.
Die melancholiſchen Lieder druͤcken ge¬ woͤhnlich allgemeine Stimmungen der Sehnſucht des Leidens und der Trauer aus, oder auch die Empfin¬ dungen bei beſondern ernſten und traurigen Anlaͤſſen. Die wahre Melancholie entſpringt in der Seele ohne allen aͤuſſern Anlaß und ſucht ſich ſelbſt ihren Gegen¬ ſtand. Die Jugend hat ihre melancholiſche Periode, und da die Jugend am meiſten lyriſch iſt, ſo ſind auch die meiſten lyriſchen Gedichte von der melancholiſchen Art. Die ſentimentale Naturbetrachtung und die Klagen der Liebe bilden den Hauptinhalt dieſer Ge¬ dichte. Sie ſind natuͤrlich und ruͤhrend, wenn die Empfindung wahr iſt, und die Graͤnzen nicht uͤber¬ ſchreitet. Es giebt aber auch eine Menge Lieder, worin theils eine gekuͤnſtelte Empfindſamkeit, theils eine uͤbermaͤßige, feige, weibiſche Weinerlichkeit herrſcht. So finden wir bei Matthiſſon, Tiedge, Ko¬ ſegarten viel zu viel Reflexion, gelehrte Citate, ab¬ ſichtliche Zierlichkeit und viel zu genaues Ausmalen. Man ſieht, daß die Dichter ſelbſt weniger empfun¬ den, als gedacht haben, und ſie wecken daher auch weniger Empfindungen, als ſinnliche Vorſtellungen und Gedanken. Dieſe Dichter wollen aber dennoch voll tiefer Empfindung erſcheinen, und uͤbertreiben daher den Ausdruck derſelben. Sie tauchen die Fe¬ der in den ewig rinnenden Thraͤnenzuber der elegi¬ ſchen Wehmuth und nehmen einen gewiſſen winſeln¬ den Klageton an, den wir hoͤchſtens bei einer un¬ gluͤcklichen Louiſe Brachmann natuͤrlich finden.
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Die melancholiſchen Lieder druͤcken ge¬
woͤhnlich allgemeine Stimmungen der Sehnſucht des
Leidens und der Trauer aus, oder auch die Empfin¬
dungen bei beſondern ernſten und traurigen Anlaͤſſen.
Die wahre Melancholie entſpringt in der Seele ohne
allen aͤuſſern Anlaß und ſucht ſich ſelbſt ihren Gegen¬
ſtand. Die Jugend hat ihre melancholiſche Periode,
und da die Jugend am meiſten lyriſch iſt, ſo ſind auch
die meiſten lyriſchen Gedichte von der melancholiſchen
Art. Die ſentimentale Naturbetrachtung und die
Klagen der Liebe bilden den Hauptinhalt dieſer Ge¬
dichte. Sie ſind natuͤrlich und ruͤhrend, wenn die
Empfindung wahr iſt, und die Graͤnzen nicht uͤber¬
ſchreitet. Es giebt aber auch eine Menge Lieder,
worin theils eine gekuͤnſtelte Empfindſamkeit, theils
eine uͤbermaͤßige, feige, weibiſche Weinerlichkeit
herrſcht. So finden wir bei Matthiſſon, Tiedge, Ko¬
ſegarten viel zu viel Reflexion, gelehrte Citate, ab¬
ſichtliche Zierlichkeit und viel zu genaues Ausmalen.
Man ſieht, daß die Dichter ſelbſt weniger empfun¬
den, als gedacht haben, und ſie wecken daher auch
weniger Empfindungen, als ſinnliche Vorſtellungen
und Gedanken. Dieſe Dichter wollen aber dennoch
voll tiefer Empfindung erſcheinen, und uͤbertreiben
daher den Ausdruck derſelben. Sie tauchen die Fe¬
der in den ewig rinnenden Thraͤnenzuber der elegi¬
ſchen Wehmuth und nehmen einen gewiſſen winſeln¬
den Klageton an, den wir hoͤchſtens bei einer un¬
gluͤcklichen Louiſe Brachmann natuͤrlich finden.
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/264>, abgerufen am 24.11.2024.
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