Wir wollen zu den einzelnen Gattungen der Poesie übergehn, und Lyra, Epos und Drama besonders betrachten. Jede dieser Gattungen hat bei uns geherrscht, heute mehr die eine, morgen die andre; alle sind nach allen möglichen Seiten ausgebildet worden, und selbst nicht wenige einzelne Dichter ha¬ ben sie alle zugleich behandelt, am universellsten un¬ ter allen übrigen Göthe. Homer war nur Epiker, Anakreon und Pindar waren nur Lyriker, Äschylos und Sophokles nur Dramatiker, unsre modernen Dich¬ ter sind aber gern und leicht alles in allem. Woher dies komme, haben wir schon oben erörtert.
Man kann in unsrer neuern Poesie einen Über¬ gang vom Lyrischen durchs Dramatische zum Epischen unterscheiden, doch ohne dabei die Gränzen allzuscharf zu ziehn. Anfangs hat unstreitig die lyrische Poesie das Übergewicht gehabt. Die schlesische Schule, bis auf welche man zurückgehn muß, war vorzugsweise lyrisch, so nachher die Schule von Haller, Gleim, Utz, Hagedorn etc., und die von Klopstock, Voß, Stoll¬ berg etc. Dann bemächtigte sich der Deutschen die Theaterwuth, und nach dem Vorgange Lessing's be¬ gründeten Schiller und Göthe, Iffland und Kotzebue die dramatische Periode, ungefähr in derselben Weise, wie auf die Arien, Symphonien und Oratorien in der Musik die Opern, auf Bach und Händel Mozart folgte. Jetzt aber sind wir vorzugsweise episch ge¬ worden in jener Sündfluth von Romanen, welche
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Wir wollen zu den einzelnen Gattungen der Poeſie uͤbergehn, und Lyra, Epos und Drama beſonders betrachten. Jede dieſer Gattungen hat bei uns geherrſcht, heute mehr die eine, morgen die andre; alle ſind nach allen moͤglichen Seiten ausgebildet worden, und ſelbſt nicht wenige einzelne Dichter ha¬ ben ſie alle zugleich behandelt, am univerſellſten un¬ ter allen uͤbrigen Goͤthe. Homer war nur Epiker, Anakreon und Pindar waren nur Lyriker, Äſchylos und Sophokles nur Dramatiker, unſre modernen Dich¬ ter ſind aber gern und leicht alles in allem. Woher dies komme, haben wir ſchon oben eroͤrtert.
Man kann in unſrer neuern Poeſie einen Über¬ gang vom Lyriſchen durchs Dramatiſche zum Epiſchen unterſcheiden, doch ohne dabei die Graͤnzen allzuſcharf zu ziehn. Anfangs hat unſtreitig die lyriſche Poeſie das Übergewicht gehabt. Die ſchleſiſche Schule, bis auf welche man zuruͤckgehn muß, war vorzugsweiſe lyriſch, ſo nachher die Schule von Haller, Gleim, Utz, Hagedorn ꝛc., und die von Klopſtock, Voß, Stoll¬ berg ꝛc. Dann bemaͤchtigte ſich der Deutſchen die Theaterwuth, und nach dem Vorgange Leſſing's be¬ gruͤndeten Schiller und Goͤthe, Iffland und Kotzebue die dramatiſche Periode, ungefaͤhr in derſelben Weiſe, wie auf die Arien, Symphonien und Oratorien in der Muſik die Opern, auf Bach und Haͤndel Mozart folgte. Jetzt aber ſind wir vorzugsweiſe epiſch ge¬ worden in jener Suͤndfluth von Romanen, welche
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Wir wollen zu den einzelnen Gattungen der
Poeſie uͤbergehn, und Lyra, Epos und Drama
beſonders betrachten. Jede dieſer Gattungen hat bei
uns geherrſcht, heute mehr die eine, morgen die andre;
alle ſind nach allen moͤglichen Seiten ausgebildet
worden, und ſelbſt nicht wenige einzelne Dichter ha¬
ben ſie alle zugleich behandelt, am univerſellſten un¬
ter allen uͤbrigen Goͤthe. Homer war nur Epiker,
Anakreon und Pindar waren nur Lyriker, Äſchylos
und Sophokles nur Dramatiker, unſre modernen Dich¬
ter ſind aber gern und leicht alles in allem. Woher
dies komme, haben wir ſchon oben eroͤrtert.
Man kann in unſrer neuern Poeſie einen Über¬
gang vom Lyriſchen durchs Dramatiſche zum Epiſchen
unterſcheiden, doch ohne dabei die Graͤnzen allzuſcharf
zu ziehn. Anfangs hat unſtreitig die lyriſche Poeſie
das Übergewicht gehabt. Die ſchleſiſche Schule, bis
auf welche man zuruͤckgehn muß, war vorzugsweiſe
lyriſch, ſo nachher die Schule von Haller, Gleim,
Utz, Hagedorn ꝛc., und die von Klopſtock, Voß, Stoll¬
berg ꝛc. Dann bemaͤchtigte ſich der Deutſchen die
Theaterwuth, und nach dem Vorgange Leſſing's be¬
gruͤndeten Schiller und Goͤthe, Iffland und Kotzebue
die dramatiſche Periode, ungefaͤhr in derſelben Weiſe,
wie auf die Arien, Symphonien und Oratorien in
der Muſik die Opern, auf Bach und Haͤndel Mozart
folgte. Jetzt aber ſind wir vorzugsweiſe epiſch ge¬
worden in jener Suͤndfluth von Romanen, welche
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/253>, abgerufen am 22.11.2024.
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