überhaupt. Die synthetische Einheit aller Dichter ist nur die analytische der Poesie selbst. Wenn man mit Recht diese aus jener sich erklärt, die Regeln des Schönen aus den Beispielen desselben abgezogen, den Metallkönig der Ästhetik aus den Goldmünzen, denen jeder Autokrat im Reich der Poesie sein königliches Bildniß aufgeprägt, in die philosophische Retorte ge¬ bannt hat, so darf unbedingt auch das Umgekehrte auf die Charakteristik der Dichter angewandt werden. Jeder Dichter ist die Offenbarung einer besondern ästhetischen Kraft, die ganze Dichterwelt ist die Of¬ fenbarung aller dieser Kräfte. Jedem Einzelnen kommt vorzugsweise nur eine Kraft zu, die er reicher und feiner als andre entwickelt.
Die Kraft nun, welche Göthe's dichterischen Cha¬ rakter bezeichnet, ist das Talent. Bekanntlich ver¬ steht man darunter das Vermögen der ästhetischen Darstellung überhaupt, ohne Rücksicht auf eine sub¬ jective Bestimmung, auf eine Poesie im Dichter selbst, denn es kann malen, ohne von einer Empfindung ge¬ leitet zu seyn, ja oft das Gegentheil von dem, was der Dichter wirklich empfindet, so wie der Schau¬ spieler oft etwas ganz andres darstellt, als was er empfindet. Eben so wenig hängt das Talent von einer objectiven Bestimmung, von einer Poesie im Gegenstand ab, denn es kann Dinge, die an und für sich selbst unpoetisch sind, in ein poetisches Gewand hüllen, und umgekehrt werden oft sehr poetische Ge¬ genstände von talentlosen Dichtern unpoetisch darge¬
uͤberhaupt. Die ſynthetiſche Einheit aller Dichter iſt nur die analytiſche der Poeſie ſelbſt. Wenn man mit Recht dieſe aus jener ſich erklaͤrt, die Regeln des Schoͤnen aus den Beiſpielen deſſelben abgezogen, den Metallkoͤnig der Äſthetik aus den Goldmuͤnzen, denen jeder Autokrat im Reich der Poeſie ſein koͤnigliches Bildniß aufgepraͤgt, in die philoſophiſche Retorte ge¬ bannt hat, ſo darf unbedingt auch das Umgekehrte auf die Charakteriſtik der Dichter angewandt werden. Jeder Dichter iſt die Offenbarung einer beſondern aͤſthetiſchen Kraft, die ganze Dichterwelt iſt die Of¬ fenbarung aller dieſer Kraͤfte. Jedem Einzelnen kommt vorzugsweiſe nur eine Kraft zu, die er reicher und feiner als andre entwickelt.
Die Kraft nun, welche Goͤthe's dichteriſchen Cha¬ rakter bezeichnet, iſt das Talent. Bekanntlich ver¬ ſteht man darunter das Vermoͤgen der aͤſthetiſchen Darſtellung uͤberhaupt, ohne Ruͤckſicht auf eine ſub¬ jective Beſtimmung, auf eine Poeſie im Dichter ſelbſt, denn es kann malen, ohne von einer Empfindung ge¬ leitet zu ſeyn, ja oft das Gegentheil von dem, was der Dichter wirklich empfindet, ſo wie der Schau¬ ſpieler oft etwas ganz andres darſtellt, als was er empfindet. Eben ſo wenig haͤngt das Talent von einer objectiven Beſtimmung, von einer Poeſie im Gegenſtand ab, denn es kann Dinge, die an und fuͤr ſich ſelbſt unpoetiſch ſind, in ein poetiſches Gewand huͤllen, und umgekehrt werden oft ſehr poetiſche Ge¬ genſtaͤnde von talentloſen Dichtern unpoetiſch darge¬
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uͤberhaupt. Die ſynthetiſche Einheit aller Dichter iſt
nur die analytiſche der Poeſie ſelbſt. Wenn man mit
Recht dieſe aus jener ſich erklaͤrt, die Regeln des
Schoͤnen aus den Beiſpielen deſſelben abgezogen, den
Metallkoͤnig der Äſthetik aus den Goldmuͤnzen, denen
jeder Autokrat im Reich der Poeſie ſein koͤnigliches
Bildniß aufgepraͤgt, in die philoſophiſche Retorte ge¬
bannt hat, ſo darf unbedingt auch das Umgekehrte
auf die Charakteriſtik der Dichter angewandt werden.
Jeder Dichter iſt die Offenbarung einer beſondern
aͤſthetiſchen Kraft, die ganze Dichterwelt iſt die Of¬
fenbarung aller dieſer Kraͤfte. Jedem Einzelnen kommt
vorzugsweiſe nur eine Kraft zu, die er reicher und
feiner als andre entwickelt.
Die Kraft nun, welche Goͤthe's dichteriſchen Cha¬
rakter bezeichnet, iſt das Talent. Bekanntlich ver¬
ſteht man darunter das Vermoͤgen der aͤſthetiſchen
Darſtellung uͤberhaupt, ohne Ruͤckſicht auf eine ſub¬
jective Beſtimmung, auf eine Poeſie im Dichter ſelbſt,
denn es kann malen, ohne von einer Empfindung ge¬
leitet zu ſeyn, ja oft das Gegentheil von dem, was
der Dichter wirklich empfindet, ſo wie der Schau¬
ſpieler oft etwas ganz andres darſtellt, als was er
empfindet. Eben ſo wenig haͤngt das Talent von
einer objectiven Beſtimmung, von einer Poeſie im
Gegenſtand ab, denn es kann Dinge, die an und fuͤr
ſich ſelbſt unpoetiſch ſind, in ein poetiſches Gewand
huͤllen, und umgekehrt werden oft ſehr poetiſche Ge¬
genſtaͤnde von talentloſen Dichtern unpoetiſch darge¬
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/219>, abgerufen am 16.02.2025.
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