üben, und wer kann ihn in den historischen Roma¬ nen verkennen? Man irrt sich, wenn man befürchtet, die praktische Richtung der lebenden Generation laufe der Poesie schnurstraks entgegen; sie reißt sie viel¬ mehr mit sich fort, wie alles andere. Wenn man auch in unserer bewegten politischen Zeit nicht mehr mit rechter Lust und Muße die alten poetischen Er¬ götzungen forttreiben kann, so bieten sich uns doch andere dar, die mehr in diese Zeit passen. Da noch alles um uns her so friedlich war, konnten wir auch mit all unserer Poesie gleichsam in der Familie le¬ ben. Jetzt ist es anders geworden. Wie wir selbst aus dem Schooße des Friedens und der Familie auf die große politische Laufbahn fortgerissen worden, so hat auch unsere Poesie den Kreis erweitert. Das zärtliche Paar, um das sich bisher fast alle Poesie gedreht, ist zu einem Volk erwachsen. Unsre poeti¬ schen Helden haben sich im Volk verloren, wie die wirklichen. Sind alle großen Männer der Zeit, selbst der größte, unter den Völkerriesen erlegen, die aus dem alten Schlummer erwachen, wie sollte die Poesie dem Geist der Völker nicht auch huldigen? Wir ha¬ ben diesen Geist über die Weltbühne schreiten sehn, mit eignen Augen haben wir Revolutionen, Völker¬ züge, wunderbare Verhängnisse, ungeheure Thaten und Leiden gesehn; und wie klein erscheint gegen diese große Wirklichkeit alles, was wir bisher im stillen Familienkreise gedichtet und geträumt! Soll sich nun die Poesie nicht schämen, so muß sie der Geschichte
uͤben, und wer kann ihn in den hiſtoriſchen Roma¬ nen verkennen? Man irrt ſich, wenn man befuͤrchtet, die praktiſche Richtung der lebenden Generation laufe der Poeſie ſchnurſtraks entgegen; ſie reißt ſie viel¬ mehr mit ſich fort, wie alles andere. Wenn man auch in unſerer bewegten politiſchen Zeit nicht mehr mit rechter Luſt und Muße die alten poetiſchen Er¬ goͤtzungen forttreiben kann, ſo bieten ſich uns doch andere dar, die mehr in dieſe Zeit paſſen. Da noch alles um uns her ſo friedlich war, konnten wir auch mit all unſerer Poeſie gleichſam in der Familie le¬ ben. Jetzt iſt es anders geworden. Wie wir ſelbſt aus dem Schooße des Friedens und der Familie auf die große politiſche Laufbahn fortgeriſſen worden, ſo hat auch unſere Poeſie den Kreis erweitert. Das zaͤrtliche Paar, um das ſich bisher faſt alle Poeſie gedreht, iſt zu einem Volk erwachſen. Unſre poeti¬ ſchen Helden haben ſich im Volk verloren, wie die wirklichen. Sind alle großen Maͤnner der Zeit, ſelbſt der groͤßte, unter den Voͤlkerrieſen erlegen, die aus dem alten Schlummer erwachen, wie ſollte die Poeſie dem Geiſt der Voͤlker nicht auch huldigen? Wir ha¬ ben dieſen Geiſt uͤber die Weltbuͤhne ſchreiten ſehn, mit eignen Augen haben wir Revolutionen, Voͤlker¬ zuͤge, wunderbare Verhaͤngniſſe, ungeheure Thaten und Leiden geſehn; und wie klein erſcheint gegen dieſe große Wirklichkeit alles, was wir bisher im ſtillen Familienkreiſe gedichtet und getraͤumt! Soll ſich nun die Poeſie nicht ſchaͤmen, ſo muß ſie der Geſchichte
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uͤben, und wer kann ihn in den hiſtoriſchen Roma¬
nen verkennen? Man irrt ſich, wenn man befuͤrchtet,
die praktiſche Richtung der lebenden Generation laufe
der Poeſie ſchnurſtraks entgegen; ſie reißt ſie viel¬
mehr mit ſich fort, wie alles andere. Wenn man
auch in unſerer bewegten politiſchen Zeit nicht mehr
mit rechter Luſt und Muße die alten poetiſchen Er¬
goͤtzungen forttreiben kann, ſo bieten ſich uns doch
andere dar, die mehr in dieſe Zeit paſſen. Da noch
alles um uns her ſo friedlich war, konnten wir auch
mit all unſerer Poeſie gleichſam in der Familie le¬
ben. Jetzt iſt es anders geworden. Wie wir ſelbſt
aus dem Schooße des Friedens und der Familie auf
die große politiſche Laufbahn fortgeriſſen worden, ſo
hat auch unſere Poeſie den Kreis erweitert. Das
zaͤrtliche Paar, um das ſich bisher faſt alle Poeſie
gedreht, iſt zu einem Volk erwachſen. Unſre poeti¬
ſchen Helden haben ſich im Volk verloren, wie die
wirklichen. Sind alle großen Maͤnner der Zeit, ſelbſt
der groͤßte, unter den Voͤlkerrieſen erlegen, die aus
dem alten Schlummer erwachen, wie ſollte die Poeſie
dem Geiſt der Voͤlker nicht auch huldigen? Wir ha¬
ben dieſen Geiſt uͤber die Weltbuͤhne ſchreiten ſehn,
mit eignen Augen haben wir Revolutionen, Voͤlker¬
zuͤge, wunderbare Verhaͤngniſſe, ungeheure Thaten
und Leiden geſehn; und wie klein erſcheint gegen dieſe
große Wirklichkeit alles, was wir bisher im ſtillen
Familienkreiſe gedichtet und getraͤumt! Soll ſich nun
die Poeſie nicht ſchaͤmen, ſo muß ſie der Geſchichte
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/193>, abgerufen am 22.11.2024.
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