Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

üben, und wer kann ihn in den historischen Roma¬
nen verkennen? Man irrt sich, wenn man befürchtet,
die praktische Richtung der lebenden Generation laufe
der Poesie schnurstraks entgegen; sie reißt sie viel¬
mehr mit sich fort, wie alles andere. Wenn man
auch in unserer bewegten politischen Zeit nicht mehr
mit rechter Lust und Muße die alten poetischen Er¬
götzungen forttreiben kann, so bieten sich uns doch
andere dar, die mehr in diese Zeit passen. Da noch
alles um uns her so friedlich war, konnten wir auch
mit all unserer Poesie gleichsam in der Familie le¬
ben. Jetzt ist es anders geworden. Wie wir selbst
aus dem Schooße des Friedens und der Familie auf
die große politische Laufbahn fortgerissen worden, so
hat auch unsere Poesie den Kreis erweitert. Das
zärtliche Paar, um das sich bisher fast alle Poesie
gedreht, ist zu einem Volk erwachsen. Unsre poeti¬
schen Helden haben sich im Volk verloren, wie die
wirklichen. Sind alle großen Männer der Zeit, selbst
der größte, unter den Völkerriesen erlegen, die aus
dem alten Schlummer erwachen, wie sollte die Poesie
dem Geist der Völker nicht auch huldigen? Wir ha¬
ben diesen Geist über die Weltbühne schreiten sehn,
mit eignen Augen haben wir Revolutionen, Völker¬
züge, wunderbare Verhängnisse, ungeheure Thaten
und Leiden gesehn; und wie klein erscheint gegen diese
große Wirklichkeit alles, was wir bisher im stillen
Familienkreise gedichtet und geträumt! Soll sich nun
die Poesie nicht schämen, so muß sie der Geschichte

uͤben, und wer kann ihn in den hiſtoriſchen Roma¬
nen verkennen? Man irrt ſich, wenn man befuͤrchtet,
die praktiſche Richtung der lebenden Generation laufe
der Poeſie ſchnurſtraks entgegen; ſie reißt ſie viel¬
mehr mit ſich fort, wie alles andere. Wenn man
auch in unſerer bewegten politiſchen Zeit nicht mehr
mit rechter Luſt und Muße die alten poetiſchen Er¬
goͤtzungen forttreiben kann, ſo bieten ſich uns doch
andere dar, die mehr in dieſe Zeit paſſen. Da noch
alles um uns her ſo friedlich war, konnten wir auch
mit all unſerer Poeſie gleichſam in der Familie le¬
ben. Jetzt iſt es anders geworden. Wie wir ſelbſt
aus dem Schooße des Friedens und der Familie auf
die große politiſche Laufbahn fortgeriſſen worden, ſo
hat auch unſere Poeſie den Kreis erweitert. Das
zaͤrtliche Paar, um das ſich bisher faſt alle Poeſie
gedreht, iſt zu einem Volk erwachſen. Unſre poeti¬
ſchen Helden haben ſich im Volk verloren, wie die
wirklichen. Sind alle großen Maͤnner der Zeit, ſelbſt
der groͤßte, unter den Voͤlkerrieſen erlegen, die aus
dem alten Schlummer erwachen, wie ſollte die Poeſie
dem Geiſt der Voͤlker nicht auch huldigen? Wir ha¬
ben dieſen Geiſt uͤber die Weltbuͤhne ſchreiten ſehn,
mit eignen Augen haben wir Revolutionen, Voͤlker¬
zuͤge, wunderbare Verhaͤngniſſe, ungeheure Thaten
und Leiden geſehn; und wie klein erſcheint gegen dieſe
große Wirklichkeit alles, was wir bisher im ſtillen
Familienkreiſe gedichtet und getraͤumt! Soll ſich nun
die Poeſie nicht ſchaͤmen, ſo muß ſie der Geſchichte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0193" n="183"/>
u&#x0364;ben, und wer kann ihn in den hi&#x017F;tori&#x017F;chen Roma¬<lb/>
nen verkennen? Man irrt &#x017F;ich, wenn man befu&#x0364;rchtet,<lb/>
die prakti&#x017F;che Richtung der lebenden Generation laufe<lb/>
der Poe&#x017F;ie &#x017F;chnur&#x017F;traks entgegen; &#x017F;ie reißt &#x017F;ie viel¬<lb/>
mehr mit &#x017F;ich fort, wie alles andere. Wenn man<lb/>
auch in un&#x017F;erer bewegten politi&#x017F;chen Zeit nicht mehr<lb/>
mit rechter Lu&#x017F;t und Muße die alten poeti&#x017F;chen Er¬<lb/>
go&#x0364;tzungen forttreiben kann, &#x017F;o bieten &#x017F;ich uns doch<lb/>
andere dar, die mehr in die&#x017F;e Zeit pa&#x017F;&#x017F;en. Da noch<lb/>
alles um uns her &#x017F;o friedlich war, konnten wir auch<lb/>
mit all un&#x017F;erer Poe&#x017F;ie gleich&#x017F;am in der Familie le¬<lb/>
ben. Jetzt i&#x017F;t es anders geworden. Wie wir &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
aus dem Schooße des Friedens und der Familie auf<lb/>
die große politi&#x017F;che Laufbahn fortgeri&#x017F;&#x017F;en worden, &#x017F;o<lb/>
hat auch un&#x017F;ere Poe&#x017F;ie den Kreis erweitert. Das<lb/>
za&#x0364;rtliche Paar, um das &#x017F;ich bisher fa&#x017F;t alle Poe&#x017F;ie<lb/>
gedreht, i&#x017F;t zu einem Volk erwach&#x017F;en. Un&#x017F;re poeti¬<lb/>
&#x017F;chen Helden haben &#x017F;ich im Volk verloren, wie die<lb/>
wirklichen. Sind alle großen Ma&#x0364;nner der Zeit, &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
der gro&#x0364;ßte, unter den Vo&#x0364;lkerrie&#x017F;en erlegen, die aus<lb/>
dem alten Schlummer erwachen, wie &#x017F;ollte die Poe&#x017F;ie<lb/>
dem Gei&#x017F;t der Vo&#x0364;lker nicht auch huldigen? Wir ha¬<lb/>
ben die&#x017F;en Gei&#x017F;t u&#x0364;ber die Weltbu&#x0364;hne &#x017F;chreiten &#x017F;ehn,<lb/>
mit eignen Augen haben wir Revolutionen, Vo&#x0364;lker¬<lb/>
zu&#x0364;ge, wunderbare Verha&#x0364;ngni&#x017F;&#x017F;e, ungeheure Thaten<lb/>
und Leiden ge&#x017F;ehn; und wie klein er&#x017F;cheint gegen die&#x017F;e<lb/>
große Wirklichkeit alles, was wir bisher im &#x017F;tillen<lb/>
Familienkrei&#x017F;e gedichtet und getra&#x0364;umt! Soll &#x017F;ich nun<lb/>
die Poe&#x017F;ie nicht &#x017F;cha&#x0364;men, &#x017F;o muß &#x017F;ie der Ge&#x017F;chichte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[183/0193] uͤben, und wer kann ihn in den hiſtoriſchen Roma¬ nen verkennen? Man irrt ſich, wenn man befuͤrchtet, die praktiſche Richtung der lebenden Generation laufe der Poeſie ſchnurſtraks entgegen; ſie reißt ſie viel¬ mehr mit ſich fort, wie alles andere. Wenn man auch in unſerer bewegten politiſchen Zeit nicht mehr mit rechter Luſt und Muße die alten poetiſchen Er¬ goͤtzungen forttreiben kann, ſo bieten ſich uns doch andere dar, die mehr in dieſe Zeit paſſen. Da noch alles um uns her ſo friedlich war, konnten wir auch mit all unſerer Poeſie gleichſam in der Familie le¬ ben. Jetzt iſt es anders geworden. Wie wir ſelbſt aus dem Schooße des Friedens und der Familie auf die große politiſche Laufbahn fortgeriſſen worden, ſo hat auch unſere Poeſie den Kreis erweitert. Das zaͤrtliche Paar, um das ſich bisher faſt alle Poeſie gedreht, iſt zu einem Volk erwachſen. Unſre poeti¬ ſchen Helden haben ſich im Volk verloren, wie die wirklichen. Sind alle großen Maͤnner der Zeit, ſelbſt der groͤßte, unter den Voͤlkerrieſen erlegen, die aus dem alten Schlummer erwachen, wie ſollte die Poeſie dem Geiſt der Voͤlker nicht auch huldigen? Wir ha¬ ben dieſen Geiſt uͤber die Weltbuͤhne ſchreiten ſehn, mit eignen Augen haben wir Revolutionen, Voͤlker¬ zuͤge, wunderbare Verhaͤngniſſe, ungeheure Thaten und Leiden geſehn; und wie klein erſcheint gegen dieſe große Wirklichkeit alles, was wir bisher im ſtillen Familienkreiſe gedichtet und getraͤumt! Soll ſich nun die Poeſie nicht ſchaͤmen, ſo muß ſie der Geſchichte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/193
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/193>, abgerufen am 22.11.2024.