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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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muß treu nach der Wahrheit geschildert werden, und
der Dichter darf sich nie erlauben, seine Geschichte
willkürlich zu entstellen. Wir finden dergleichen Ent¬
stellungen in mehreren Romanen. Gewisse Dichter
tragen die Interessen, Gesinnungen und Parteiansich¬
ten der gegenwärtigen Zeit in die Vergangenheit hin¬
über, und dies ist eine poetische Sünde. Jede Zeit
hat ihre eigene Poesie und sie darf nicht verfälscht
werden. Dem Dichter steht eine zweite phantastische
Welt offen, dahin kann er alles verpflanzen, was er
erfindet, aber auf dem Boden der Wirklichkeit muß
er die Poesie so lassen, wie sie demselben schon von
Natur eingepflanzt ist.

Außerdem hat der Dichter noch zwei Extreme
zu vermeiden, wenn er die Poesie der Völker charak¬
teristisch bezeichnen will. Er muß ein zu Hohes und
ein zu Niederes scheuen. Zu hoch sind gewisse Hel¬
den der Geschichte, die gleichsam aus dem Kreise der
Nation heraustreten, in denen der Genius der gan¬
zen Menschheit waltet, deren überwiegende Kraft die
Bande der Gewöhnung, des Ländlichen und Sittli¬
chen zerreißt. Solche Helden ziehen, wo sie erschei¬
nen, alle Augen allein auf sich, und das Volk tritt
in den dunkeln Hintergrund. Wer also das Volk
schildern will, muß es in seiner Mitte, nicht in sol¬
chen ausschweifenden Höhenpunkten ergreifen. Aber
es gibt auch eine zu niedrige Sphäre, in der man
es ebenfalls nicht vorzugsweise auffassen darf, ohne
es ganz zu verkennen. Dann malt der Dichter nur

muß treu nach der Wahrheit geſchildert werden, und
der Dichter darf ſich nie erlauben, ſeine Geſchichte
willkuͤrlich zu entſtellen. Wir finden dergleichen Ent¬
ſtellungen in mehreren Romanen. Gewiſſe Dichter
tragen die Intereſſen, Geſinnungen und Parteianſich¬
ten der gegenwaͤrtigen Zeit in die Vergangenheit hin¬
uͤber, und dies iſt eine poetiſche Suͤnde. Jede Zeit
hat ihre eigene Poeſie und ſie darf nicht verfaͤlſcht
werden. Dem Dichter ſteht eine zweite phantaſtiſche
Welt offen, dahin kann er alles verpflanzen, was er
erfindet, aber auf dem Boden der Wirklichkeit muß
er die Poeſie ſo laſſen, wie ſie demſelben ſchon von
Natur eingepflanzt iſt.

Außerdem hat der Dichter noch zwei Extreme
zu vermeiden, wenn er die Poeſie der Voͤlker charak¬
teriſtiſch bezeichnen will. Er muß ein zu Hohes und
ein zu Niederes ſcheuen. Zu hoch ſind gewiſſe Hel¬
den der Geſchichte, die gleichſam aus dem Kreiſe der
Nation heraustreten, in denen der Genius der gan¬
zen Menſchheit waltet, deren uͤberwiegende Kraft die
Bande der Gewoͤhnung, des Laͤndlichen und Sittli¬
chen zerreißt. Solche Helden ziehen, wo ſie erſchei¬
nen, alle Augen allein auf ſich, und das Volk tritt
in den dunkeln Hintergrund. Wer alſo das Volk
ſchildern will, muß es in ſeiner Mitte, nicht in ſol¬
chen ausſchweifenden Hoͤhenpunkten ergreifen. Aber
es gibt auch eine zu niedrige Sphaͤre, in der man
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[181/0191] muß treu nach der Wahrheit geſchildert werden, und der Dichter darf ſich nie erlauben, ſeine Geſchichte willkuͤrlich zu entſtellen. Wir finden dergleichen Ent¬ ſtellungen in mehreren Romanen. Gewiſſe Dichter tragen die Intereſſen, Geſinnungen und Parteianſich¬ ten der gegenwaͤrtigen Zeit in die Vergangenheit hin¬ uͤber, und dies iſt eine poetiſche Suͤnde. Jede Zeit hat ihre eigene Poeſie und ſie darf nicht verfaͤlſcht werden. Dem Dichter ſteht eine zweite phantaſtiſche Welt offen, dahin kann er alles verpflanzen, was er erfindet, aber auf dem Boden der Wirklichkeit muß er die Poeſie ſo laſſen, wie ſie demſelben ſchon von Natur eingepflanzt iſt. Außerdem hat der Dichter noch zwei Extreme zu vermeiden, wenn er die Poeſie der Voͤlker charak¬ teriſtiſch bezeichnen will. Er muß ein zu Hohes und ein zu Niederes ſcheuen. Zu hoch ſind gewiſſe Hel¬ den der Geſchichte, die gleichſam aus dem Kreiſe der Nation heraustreten, in denen der Genius der gan¬ zen Menſchheit waltet, deren uͤberwiegende Kraft die Bande der Gewoͤhnung, des Laͤndlichen und Sittli¬ chen zerreißt. Solche Helden ziehen, wo ſie erſchei¬ nen, alle Augen allein auf ſich, und das Volk tritt in den dunkeln Hintergrund. Wer alſo das Volk ſchildern will, muß es in ſeiner Mitte, nicht in ſol¬ chen ausſchweifenden Hoͤhenpunkten ergreifen. Aber es gibt auch eine zu niedrige Sphaͤre, in der man es ebenfalls nicht vorzugsweiſe auffaſſen darf, ohne es ganz zu verkennen. Dann malt der Dichter nur

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/191>, abgerufen am 03.05.2024.