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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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für das Naturschöne immer unerreichbar bleibt. Seine
zerstreuten Schilderungen von Volksfesten sind schon
Muster in der Manier, die jetzt durch Walter Scott
so weite Verbreitung erlangt hat. Auch darf der
geniale Versuch, alle nationellen Eigenthümlichkeiten
im Mittelalter in ein großes Gemälde zu fassen und
durch Contraste zu erheben, in Fouques Zauberring,
nicht vergessen werden, wenn auch die Ausführung
selbst die Idee nicht erreicht.

Nachdem bei allen europäischen Völkern in Folge
der Zeitereignisse offenbar eine Neigung für das
Volksthümliche und Physiognomische herrschend ge¬
worden war, trat in England Walter Scott auf,
und befriedigte diese Neigung auf die glänzendste
Weise, indem er sie zugleich aufklärte, befestigte, er¬
weiterte. Unter den Kindern der Zeit ist immer eins,
das sie zum Liebling sich auswählt, und diese Lieb¬
linge wechseln wie die Zeit selbst. Die unsere hat
ihre ganze Zärtlichkeit jenem Britten zugewendet, den
man noch immer gern den großen Unbekannten
nennt, um ihn als den Dalai Lama der Dichter zu
bezeichnen. Walter Scott ist aber nicht nur in dem
Maaße der Liebling unsrer Zeit, als andere Dichter
die Verehrung früherer Zeiten genossen haben, son¬
dern unzweifelhaft in einem weit höhern Maaße.
Noch nie ist ein Dichter so allgemein bei allen Na¬
tionen der gebildeten Welt, ich will nicht sagen be¬
liebt, nur überhaupt bekannt geworden, als Walter
Scott. Der ersten Bekanntschaft mit ihm ist aber

fuͤr das Naturſchoͤne immer unerreichbar bleibt. Seine
zerſtreuten Schilderungen von Volksfeſten ſind ſchon
Muſter in der Manier, die jetzt durch Walter Scott
ſo weite Verbreitung erlangt hat. Auch darf der
geniale Verſuch, alle nationellen Eigenthuͤmlichkeiten
im Mittelalter in ein großes Gemaͤlde zu faſſen und
durch Contraſte zu erheben, in Fouqués Zauberring,
nicht vergeſſen werden, wenn auch die Ausfuͤhrung
ſelbſt die Idee nicht erreicht.

Nachdem bei allen europaͤiſchen Voͤlkern in Folge
der Zeitereigniſſe offenbar eine Neigung fuͤr das
Volksthuͤmliche und Phyſiognomiſche herrſchend ge¬
worden war, trat in England Walter Scott auf,
und befriedigte dieſe Neigung auf die glaͤnzendſte
Weiſe, indem er ſie zugleich aufklaͤrte, befeſtigte, er¬
weiterte. Unter den Kindern der Zeit iſt immer eins,
das ſie zum Liebling ſich auswaͤhlt, und dieſe Lieb¬
linge wechſeln wie die Zeit ſelbſt. Die unſere hat
ihre ganze Zaͤrtlichkeit jenem Britten zugewendet, den
man noch immer gern den großen Unbekannten
nennt, um ihn als den Dalai Lama der Dichter zu
bezeichnen. Walter Scott iſt aber nicht nur in dem
Maaße der Liebling unſrer Zeit, als andere Dichter
die Verehrung fruͤherer Zeiten genoſſen haben, ſon¬
dern unzweifelhaft in einem weit hoͤhern Maaße.
Noch nie iſt ein Dichter ſo allgemein bei allen Na¬
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liebt, nur uͤberhaupt bekannt geworden, als Walter
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[164/0174] fuͤr das Naturſchoͤne immer unerreichbar bleibt. Seine zerſtreuten Schilderungen von Volksfeſten ſind ſchon Muſter in der Manier, die jetzt durch Walter Scott ſo weite Verbreitung erlangt hat. Auch darf der geniale Verſuch, alle nationellen Eigenthuͤmlichkeiten im Mittelalter in ein großes Gemaͤlde zu faſſen und durch Contraſte zu erheben, in Fouqués Zauberring, nicht vergeſſen werden, wenn auch die Ausfuͤhrung ſelbſt die Idee nicht erreicht. Nachdem bei allen europaͤiſchen Voͤlkern in Folge der Zeitereigniſſe offenbar eine Neigung fuͤr das Volksthuͤmliche und Phyſiognomiſche herrſchend ge¬ worden war, trat in England Walter Scott auf, und befriedigte dieſe Neigung auf die glaͤnzendſte Weiſe, indem er ſie zugleich aufklaͤrte, befeſtigte, er¬ weiterte. Unter den Kindern der Zeit iſt immer eins, das ſie zum Liebling ſich auswaͤhlt, und dieſe Lieb¬ linge wechſeln wie die Zeit ſelbſt. Die unſere hat ihre ganze Zaͤrtlichkeit jenem Britten zugewendet, den man noch immer gern den großen Unbekannten nennt, um ihn als den Dalai Lama der Dichter zu bezeichnen. Walter Scott iſt aber nicht nur in dem Maaße der Liebling unſrer Zeit, als andere Dichter die Verehrung fruͤherer Zeiten genoſſen haben, ſon¬ dern unzweifelhaft in einem weit hoͤhern Maaße. Noch nie iſt ein Dichter ſo allgemein bei allen Na¬ tionen der gebildeten Welt, ich will nicht ſagen be¬ liebt, nur uͤberhaupt bekannt geworden, als Walter Scott. Der erſten Bekanntſchaft mit ihm iſt aber

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/174>, abgerufen am 04.05.2024.