Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

heiligen Sprache verkündet sind. Niemand streitet
ihnen den poetischen Charakter und Werth ab, wenn
auch die ganze kritische Schulphilosophie den philo¬
sophischen Werth derselben schlechterdings abläugnet,
sie gänzlich aus dem Gebiet der Philosophie verbannt
wissen will. Dennoch ist in diesen poetischen Offen¬
barungen die Wahrheit oft tiefer ergründet, als in
dem beschränkten Kriticismus.

Ihr poetischer Werth beruht theils im Inhalt,
theils in der Form. Ihr Inhalt ist das ewige große
Wunder der Welt. Sie mystificiren uns, sie zeigen
uns selbst im Begreiflichen noch das Wunder, wäh¬
rend umgekehrt der Kriticismus selbst das wirklich
Wunderbare begreiflich und gemein zu machen strebt.
Es ist ihnen nicht um philosophischen Effect, um
Vernichtung des Wunders, um Erklärung für den
Verstand, sondern nur um poetischen Effect, um Ver¬
stärkung des Wunders, um Interesse für das Ge¬
fühl und die Phantasie zu thun.

Die poetische Form dieser Weltgedichte ist we¬
niger in den Bildern und in der feierlichen Sprache
zu suchen, als in dem architektonischen Bau, in der
Harmonik des Systems. Es steht dem Begriff des
Schönen durchaus nicht entgegen, daß es auch in
einem System, in einem Gebäude, sey es logisch
oder materiell, wohnen kann. In tiefen mathemati¬
schen Combinationen schließt sich der poetische Zauber
der Harmonik auf, im materiellen Gebiet durch die
Baukunst und durch die Musik, im geistigen Gebiet

heiligen Sprache verkuͤndet ſind. Niemand ſtreitet
ihnen den poetiſchen Charakter und Werth ab, wenn
auch die ganze kritiſche Schulphiloſophie den philo¬
ſophiſchen Werth derſelben ſchlechterdings ablaͤugnet,
ſie gaͤnzlich aus dem Gebiet der Philoſophie verbannt
wiſſen will. Dennoch iſt in dieſen poetiſchen Offen¬
barungen die Wahrheit oft tiefer ergruͤndet, als in
dem beſchraͤnkten Kriticismus.

Ihr poetiſcher Werth beruht theils im Inhalt,
theils in der Form. Ihr Inhalt iſt das ewige große
Wunder der Welt. Sie myſtificiren uns, ſie zeigen
uns ſelbſt im Begreiflichen noch das Wunder, waͤh¬
rend umgekehrt der Kriticismus ſelbſt das wirklich
Wunderbare begreiflich und gemein zu machen ſtrebt.
Es iſt ihnen nicht um philoſophiſchen Effect, um
Vernichtung des Wunders, um Erklaͤrung fuͤr den
Verſtand, ſondern nur um poetiſchen Effect, um Ver¬
ſtaͤrkung des Wunders, um Intereſſe fuͤr das Ge¬
fuͤhl und die Phantaſie zu thun.

Die poetiſche Form dieſer Weltgedichte iſt we¬
niger in den Bildern und in der feierlichen Sprache
zu ſuchen, als in dem architektoniſchen Bau, in der
Harmonik des Syſtems. Es ſteht dem Begriff des
Schoͤnen durchaus nicht entgegen, daß es auch in
einem Syſtem, in einem Gebaͤude, ſey es logiſch
oder materiell, wohnen kann. In tiefen mathemati¬
ſchen Combinationen ſchließt ſich der poetiſche Zauber
der Harmonik auf, im materiellen Gebiet durch die
Baukunſt und durch die Muſik, im geiſtigen Gebiet

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0144" n="134"/>
heiligen Sprache verku&#x0364;ndet &#x017F;ind. Niemand &#x017F;treitet<lb/>
ihnen den poeti&#x017F;chen Charakter und Werth ab, wenn<lb/>
auch die ganze kriti&#x017F;che Schulphilo&#x017F;ophie den philo¬<lb/>
&#x017F;ophi&#x017F;chen Werth der&#x017F;elben &#x017F;chlechterdings abla&#x0364;ugnet,<lb/>
&#x017F;ie ga&#x0364;nzlich aus dem Gebiet der Philo&#x017F;ophie verbannt<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en will. Dennoch i&#x017F;t in die&#x017F;en poeti&#x017F;chen Offen¬<lb/>
barungen die Wahrheit oft tiefer ergru&#x0364;ndet, als in<lb/>
dem be&#x017F;chra&#x0364;nkten Kriticismus.</p><lb/>
        <p>Ihr poeti&#x017F;cher Werth beruht theils im Inhalt,<lb/>
theils in der Form. Ihr Inhalt i&#x017F;t das ewige große<lb/>
Wunder der Welt. Sie my&#x017F;tificiren uns, &#x017F;ie zeigen<lb/>
uns &#x017F;elb&#x017F;t im Begreiflichen noch das Wunder, wa&#x0364;<lb/>
rend umgekehrt der Kriticismus &#x017F;elb&#x017F;t das wirklich<lb/>
Wunderbare begreiflich und gemein zu machen &#x017F;trebt.<lb/>
Es i&#x017F;t ihnen nicht um philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Effect, um<lb/>
Vernichtung des Wunders, um Erkla&#x0364;rung fu&#x0364;r den<lb/>
Ver&#x017F;tand, &#x017F;ondern nur um poeti&#x017F;chen Effect, um Ver¬<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;rkung des Wunders, um Intere&#x017F;&#x017F;e fu&#x0364;r das Ge¬<lb/>
fu&#x0364;hl und die Phanta&#x017F;ie zu thun.</p><lb/>
        <p>Die poeti&#x017F;che Form die&#x017F;er Weltgedichte i&#x017F;t we¬<lb/>
niger in den Bildern und in der feierlichen Sprache<lb/>
zu &#x017F;uchen, als in dem architektoni&#x017F;chen Bau, in der<lb/>
Harmonik des Sy&#x017F;tems. Es &#x017F;teht dem Begriff des<lb/>
Scho&#x0364;nen durchaus nicht entgegen, daß es auch in<lb/>
einem Sy&#x017F;tem, in einem Geba&#x0364;ude, &#x017F;ey es logi&#x017F;ch<lb/>
oder materiell, wohnen kann. In tiefen mathemati¬<lb/>
&#x017F;chen Combinationen &#x017F;chließt &#x017F;ich der poeti&#x017F;che Zauber<lb/>
der Harmonik auf, im materiellen Gebiet durch die<lb/>
Baukun&#x017F;t und durch die Mu&#x017F;ik, im gei&#x017F;tigen Gebiet<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[134/0144] heiligen Sprache verkuͤndet ſind. Niemand ſtreitet ihnen den poetiſchen Charakter und Werth ab, wenn auch die ganze kritiſche Schulphiloſophie den philo¬ ſophiſchen Werth derſelben ſchlechterdings ablaͤugnet, ſie gaͤnzlich aus dem Gebiet der Philoſophie verbannt wiſſen will. Dennoch iſt in dieſen poetiſchen Offen¬ barungen die Wahrheit oft tiefer ergruͤndet, als in dem beſchraͤnkten Kriticismus. Ihr poetiſcher Werth beruht theils im Inhalt, theils in der Form. Ihr Inhalt iſt das ewige große Wunder der Welt. Sie myſtificiren uns, ſie zeigen uns ſelbſt im Begreiflichen noch das Wunder, waͤh¬ rend umgekehrt der Kriticismus ſelbſt das wirklich Wunderbare begreiflich und gemein zu machen ſtrebt. Es iſt ihnen nicht um philoſophiſchen Effect, um Vernichtung des Wunders, um Erklaͤrung fuͤr den Verſtand, ſondern nur um poetiſchen Effect, um Ver¬ ſtaͤrkung des Wunders, um Intereſſe fuͤr das Ge¬ fuͤhl und die Phantaſie zu thun. Die poetiſche Form dieſer Weltgedichte iſt we¬ niger in den Bildern und in der feierlichen Sprache zu ſuchen, als in dem architektoniſchen Bau, in der Harmonik des Syſtems. Es ſteht dem Begriff des Schoͤnen durchaus nicht entgegen, daß es auch in einem Syſtem, in einem Gebaͤude, ſey es logiſch oder materiell, wohnen kann. In tiefen mathemati¬ ſchen Combinationen ſchließt ſich der poetiſche Zauber der Harmonik auf, im materiellen Gebiet durch die Baukunſt und durch die Muſik, im geiſtigen Gebiet

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/144
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/144>, abgerufen am 06.05.2024.