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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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trachten, steht daher aber auch zur übrigen neuern
Poesie in demselben Verhältniß, wie die antike Poe¬
sie. In der ganzen Lebensansicht einer fernen Vor¬
zeit befangen, hat sie einen beschränkten Kreis und
findet beim großen Publikum wenig Eingang.

Endlich gibt es noch eine fünfte Gattung des
Romantischen, die immer mehr die wichtigste zu wer¬
den scheint. In vieler Hinsicht dürfen wir Herder
als den Begründer derselben ansehn. Sie sucht das
romantische Wunder in dem Nationellen, in der
eigenthümlichen Natur und Weise der Völker. Ihr
Koryphäe ist jetzt Walter Scott.

Wir wollen nun jede dieser romantischen Schu¬
len näher ins Auge fassen. Die erste sucht den ro¬
mantischen Reiz in wunderbaren Begebenheiten, Aben¬
teuern, Schicksalen. Die Menschen, die Charaktere
spielen hier eine untergeordnete Rolle; glänzende De¬
corationen, überraschende Maschinen sind die Haupt¬
sachen. Der Mensch gilt nicht durch das, was er
ist, fühlt, denkt, thut, sondern nur durch das, was
mit ihm geschieht. Natürlich spielt diese Poesie man¬
nigfaltig in die mittelalterliche Volks- und Sagen¬
poesie hinüber, allein sie bedient sich derselben will¬
kürlich nur als Mittel, sie entlehnt viele Wunder
aus dem Volksglauben, nur um damit zu spielen.
Sie wirft daher auch gern allen Volksglauben durch¬
einander, und mischt griechische Götter, arabische
Feen, nordische Elfen und christliche Engel und Teu¬

Deutsche Literatur. II. 5

trachten, ſteht daher aber auch zur uͤbrigen neuern
Poeſie in demſelben Verhaͤltniß, wie die antike Poe¬
ſie. In der ganzen Lebensanſicht einer fernen Vor¬
zeit befangen, hat ſie einen beſchraͤnkten Kreis und
findet beim großen Publikum wenig Eingang.

Endlich gibt es noch eine fuͤnfte Gattung des
Romantiſchen, die immer mehr die wichtigſte zu wer¬
den ſcheint. In vieler Hinſicht duͤrfen wir Herder
als den Begruͤnder derſelben anſehn. Sie ſucht das
romantiſche Wunder in dem Nationellen, in der
eigenthuͤmlichen Natur und Weiſe der Voͤlker. Ihr
Koryphaͤe iſt jetzt Walter Scott.

Wir wollen nun jede dieſer romantiſchen Schu¬
len naͤher ins Auge faſſen. Die erſte ſucht den ro¬
mantiſchen Reiz in wunderbaren Begebenheiten, Aben¬
teuern, Schickſalen. Die Menſchen, die Charaktere
ſpielen hier eine untergeordnete Rolle; glaͤnzende De¬
corationen, uͤberraſchende Maſchinen ſind die Haupt¬
ſachen. Der Menſch gilt nicht durch das, was er
iſt, fuͤhlt, denkt, thut, ſondern nur durch das, was
mit ihm geſchieht. Natuͤrlich ſpielt dieſe Poeſie man¬
nigfaltig in die mittelalterliche Volks- und Sagen¬
poeſie hinuͤber, allein ſie bedient ſich derſelben will¬
kuͤrlich nur als Mittel, ſie entlehnt viele Wunder
aus dem Volksglauben, nur um damit zu ſpielen.
Sie wirft daher auch gern allen Volksglauben durch¬
einander, und miſcht griechiſche Goͤtter, arabiſche
Feen, nordiſche Elfen und chriſtliche Engel und Teu¬

Deutſche Literatur. II. 5
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[97/0107] trachten, ſteht daher aber auch zur uͤbrigen neuern Poeſie in demſelben Verhaͤltniß, wie die antike Poe¬ ſie. In der ganzen Lebensanſicht einer fernen Vor¬ zeit befangen, hat ſie einen beſchraͤnkten Kreis und findet beim großen Publikum wenig Eingang. Endlich gibt es noch eine fuͤnfte Gattung des Romantiſchen, die immer mehr die wichtigſte zu wer¬ den ſcheint. In vieler Hinſicht duͤrfen wir Herder als den Begruͤnder derſelben anſehn. Sie ſucht das romantiſche Wunder in dem Nationellen, in der eigenthuͤmlichen Natur und Weiſe der Voͤlker. Ihr Koryphaͤe iſt jetzt Walter Scott. Wir wollen nun jede dieſer romantiſchen Schu¬ len naͤher ins Auge faſſen. Die erſte ſucht den ro¬ mantiſchen Reiz in wunderbaren Begebenheiten, Aben¬ teuern, Schickſalen. Die Menſchen, die Charaktere ſpielen hier eine untergeordnete Rolle; glaͤnzende De¬ corationen, uͤberraſchende Maſchinen ſind die Haupt¬ ſachen. Der Menſch gilt nicht durch das, was er iſt, fuͤhlt, denkt, thut, ſondern nur durch das, was mit ihm geſchieht. Natuͤrlich ſpielt dieſe Poeſie man¬ nigfaltig in die mittelalterliche Volks- und Sagen¬ poeſie hinuͤber, allein ſie bedient ſich derſelben will¬ kuͤrlich nur als Mittel, ſie entlehnt viele Wunder aus dem Volksglauben, nur um damit zu ſpielen. Sie wirft daher auch gern allen Volksglauben durch¬ einander, und miſcht griechiſche Goͤtter, arabiſche Feen, nordiſche Elfen und chriſtliche Engel und Teu¬ Deutſche Literatur. II. 5

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/107>, abgerufen am 07.05.2024.