Mannigfaltigkeit der Ansichten, diese Mannigfaltig¬ keit hebt die Einheit der Idee nicht auf. Die Reli¬ gion hat das Eigenthümliche, daß sie Kraft der in ihr liegenden Idee immer eine ausschließliche, Kraft der irdischen Bedingung immer eine einseitige Ansicht des höchsten Wesens enthält.
Die allen Menschen angeborne Anerkennung eines höchsten Wesens nennen wir den Glauben. Jeder Mensch glaubt an das höchste Wesen, an Gott, und die Idee desselben liegt allen noch so verschiednen Ansichten zu Grunde, der Glaube geht der Art, wie man glaubt, unmittelbar voraus. Dieser Glauben an Gott liegt allen religiösen Ansichten zu Grunde, die Ansichten aber sind verschieden, je nach dem menschlichen Vermögen und deren Ausbildung. Wir dürfen alle menschlichen Vermögen, in welchen der Glaube sich aussprechen kann, als sinnliche, gemüth¬ liche und geistige bezeichnen. Der sinnliche Gläubige sieht Gott in der Sonne oder in der ganzen Natur, oder schafft sich ein künstliches Bild von ihm, und dient ihm in sinnlichen Handlungen. Der Gemüth¬ liche empfindet Gott in den Gefühlen der Ehrfurcht, Liebe, des Danks, der Furcht. Der Geistige denkt Gott und abstrahirt sich aus dem Begriff des höch¬ sten Wesens die höchsten Gesetze der Natur und des Lebens. Diese Ansichten erscheinen wieder nach dem Maaß der menschlichen Ausbildung mehr oder weni¬ ger vermischt, und die Mystik in der Blüthe des Mittelalters erkannte eine vollkommene organische
Mannigfaltigkeit der Anſichten, dieſe Mannigfaltig¬ keit hebt die Einheit der Idee nicht auf. Die Reli¬ gion hat das Eigenthuͤmliche, daß ſie Kraft der in ihr liegenden Idee immer eine ausſchließliche, Kraft der irdiſchen Bedingung immer eine einſeitige Anſicht des hoͤchſten Weſens enthaͤlt.
Die allen Menſchen angeborne Anerkennung eines hoͤchſten Weſens nennen wir den Glauben. Jeder Menſch glaubt an das hoͤchſte Weſen, an Gott, und die Idee deſſelben liegt allen noch ſo verſchiednen Anſichten zu Grunde, der Glaube geht der Art, wie man glaubt, unmittelbar voraus. Dieſer Glauben an Gott liegt allen religioͤſen Anſichten zu Grunde, die Anſichten aber ſind verſchieden, je nach dem menſchlichen Vermoͤgen und deren Ausbildung. Wir duͤrfen alle menſchlichen Vermoͤgen, in welchen der Glaube ſich ausſprechen kann, als ſinnliche, gemuͤth¬ liche und geiſtige bezeichnen. Der ſinnliche Glaͤubige ſieht Gott in der Sonne oder in der ganzen Natur, oder ſchafft ſich ein kuͤnſtliches Bild von ihm, und dient ihm in ſinnlichen Handlungen. Der Gemuͤth¬ liche empfindet Gott in den Gefuͤhlen der Ehrfurcht, Liebe, des Danks, der Furcht. Der Geiſtige denkt Gott und abſtrahirt ſich aus dem Begriff des hoͤch¬ ſten Weſens die hoͤchſten Geſetze der Natur und des Lebens. Dieſe Anſichten erſcheinen wieder nach dem Maaß der menſchlichen Ausbildung mehr oder weni¬ ger vermiſcht, und die Myſtik in der Bluͤthe des Mittelalters erkannte eine vollkommene organiſche
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0093"n="83"/>
Mannigfaltigkeit der Anſichten, dieſe Mannigfaltig¬<lb/>
keit hebt die Einheit der Idee nicht auf. Die Reli¬<lb/>
gion hat das Eigenthuͤmliche, daß ſie Kraft der in<lb/>
ihr liegenden Idee immer eine ausſchließliche, Kraft<lb/>
der irdiſchen Bedingung immer eine einſeitige Anſicht<lb/>
des hoͤchſten Weſens enthaͤlt.</p><lb/><p>Die allen Menſchen angeborne Anerkennung eines<lb/>
hoͤchſten Weſens nennen wir den Glauben. Jeder<lb/>
Menſch glaubt an das hoͤchſte Weſen, an Gott, und<lb/>
die Idee deſſelben liegt allen noch ſo verſchiednen<lb/>
Anſichten zu Grunde, der Glaube geht der Art, wie<lb/>
man glaubt, unmittelbar voraus. Dieſer Glauben<lb/>
an Gott liegt allen religioͤſen Anſichten zu Grunde,<lb/>
die Anſichten aber ſind verſchieden, je nach dem<lb/>
menſchlichen Vermoͤgen und deren Ausbildung. Wir<lb/>
duͤrfen alle menſchlichen Vermoͤgen, in welchen der<lb/>
Glaube ſich ausſprechen kann, als ſinnliche, gemuͤth¬<lb/>
liche und geiſtige bezeichnen. Der ſinnliche Glaͤubige<lb/>ſieht Gott in der Sonne oder in der ganzen Natur,<lb/>
oder ſchafft ſich ein kuͤnſtliches Bild von ihm, und<lb/>
dient ihm in ſinnlichen Handlungen. Der Gemuͤth¬<lb/>
liche empfindet Gott in den Gefuͤhlen der Ehrfurcht,<lb/>
Liebe, des Danks, der Furcht. Der Geiſtige denkt<lb/>
Gott und abſtrahirt ſich aus dem Begriff des hoͤch¬<lb/>ſten Weſens die hoͤchſten Geſetze der Natur und des<lb/>
Lebens. Dieſe Anſichten erſcheinen wieder nach dem<lb/>
Maaß der menſchlichen Ausbildung mehr oder weni¬<lb/>
ger vermiſcht, und die Myſtik in der Bluͤthe des<lb/>
Mittelalters erkannte eine vollkommene organiſche<lb/></p></div></body></text></TEI>
[83/0093]
Mannigfaltigkeit der Anſichten, dieſe Mannigfaltig¬
keit hebt die Einheit der Idee nicht auf. Die Reli¬
gion hat das Eigenthuͤmliche, daß ſie Kraft der in
ihr liegenden Idee immer eine ausſchließliche, Kraft
der irdiſchen Bedingung immer eine einſeitige Anſicht
des hoͤchſten Weſens enthaͤlt.
Die allen Menſchen angeborne Anerkennung eines
hoͤchſten Weſens nennen wir den Glauben. Jeder
Menſch glaubt an das hoͤchſte Weſen, an Gott, und
die Idee deſſelben liegt allen noch ſo verſchiednen
Anſichten zu Grunde, der Glaube geht der Art, wie
man glaubt, unmittelbar voraus. Dieſer Glauben
an Gott liegt allen religioͤſen Anſichten zu Grunde,
die Anſichten aber ſind verſchieden, je nach dem
menſchlichen Vermoͤgen und deren Ausbildung. Wir
duͤrfen alle menſchlichen Vermoͤgen, in welchen der
Glaube ſich ausſprechen kann, als ſinnliche, gemuͤth¬
liche und geiſtige bezeichnen. Der ſinnliche Glaͤubige
ſieht Gott in der Sonne oder in der ganzen Natur,
oder ſchafft ſich ein kuͤnſtliches Bild von ihm, und
dient ihm in ſinnlichen Handlungen. Der Gemuͤth¬
liche empfindet Gott in den Gefuͤhlen der Ehrfurcht,
Liebe, des Danks, der Furcht. Der Geiſtige denkt
Gott und abſtrahirt ſich aus dem Begriff des hoͤch¬
ſten Weſens die hoͤchſten Geſetze der Natur und des
Lebens. Dieſe Anſichten erſcheinen wieder nach dem
Maaß der menſchlichen Ausbildung mehr oder weni¬
ger vermiſcht, und die Myſtik in der Bluͤthe des
Mittelalters erkannte eine vollkommene organiſche
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/93>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.