Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

Weise eine so harmonische Bildung zu gewinnen su¬
chen, als die Griechen zu ihrer Zeit auf ihre Weise
sie gewonnen. Lächerlich aber machen wir uns, wenn
wir die griechischen Formen nachkünsteln, ohne den
Geist und das Leben, aus welchen sie hervorgingen.
Wir sollten unsre geselligen Verhältnisse nach unsrer
Eigenthümlichkeit so fein ausbilden, wie die Franzo¬
sen es nach der ihrigen thun. Affen aber sind wir,
wenn wir französische Floskeln und Bücklinge nach¬
tölpeln. Wir sollten frei und männlich zu denken
und zu handeln suchen, wie Engländer und Amerika¬
ner, aber nicht von einer Nachäffung ihrer äußerli¬
chen Institutionen das Heil erwarten. Wir sollten
die Tüchtigkeit und den tiefen Geist des Mittelalters
uns erneuern, aber nicht die alte Tracht und Sprache
kümmerlich affectiren.

Die formellen Nachahmungen gleichen den Moden
und haben dasselbe Schicksal. Eine kurze Zeit gelten
sie ausschließlich und man heißt ein Sonderling, wenn
man sie nicht mitmacht. Hinterher erscheinen sie alle
lächerlich. Auch in Rom galt einst der griechische
Geschmack. Wer aber wird anstehn, die Kraft und
den Ernst der Römer in ihren eigenthümlichen Gei¬
steswerken unendlich höher zu schätzen, als die Affec¬
tation attischer Feinheit in ihren griechischen Copien?
Lange schon erscheinen uns die Franzosen in ihren
antiken Tragödien nur komisch, aber wieviel wir uns
darauf einbilden, geschickter zu copiren, so sind doch
die als musterhaft anerkannten Voßischen Copien nicht

Weiſe eine ſo harmoniſche Bildung zu gewinnen ſu¬
chen, als die Griechen zu ihrer Zeit auf ihre Weiſe
ſie gewonnen. Laͤcherlich aber machen wir uns, wenn
wir die griechiſchen Formen nachkuͤnſteln, ohne den
Geiſt und das Leben, aus welchen ſie hervorgingen.
Wir ſollten unſre geſelligen Verhaͤltniſſe nach unſrer
Eigenthuͤmlichkeit ſo fein ausbilden, wie die Franzo¬
ſen es nach der ihrigen thun. Affen aber ſind wir,
wenn wir franzoͤſiſche Floskeln und Buͤcklinge nach¬
toͤlpeln. Wir ſollten frei und maͤnnlich zu denken
und zu handeln ſuchen, wie Englaͤnder und Amerika¬
ner, aber nicht von einer Nachaͤffung ihrer aͤußerli¬
chen Inſtitutionen das Heil erwarten. Wir ſollten
die Tuͤchtigkeit und den tiefen Geiſt des Mittelalters
uns erneuern, aber nicht die alte Tracht und Sprache
kuͤmmerlich affectiren.

Die formellen Nachahmungen gleichen den Moden
und haben daſſelbe Schickſal. Eine kurze Zeit gelten
ſie ausſchließlich und man heißt ein Sonderling, wenn
man ſie nicht mitmacht. Hinterher erſcheinen ſie alle
laͤcherlich. Auch in Rom galt einſt der griechiſche
Geſchmack. Wer aber wird anſtehn, die Kraft und
den Ernſt der Roͤmer in ihren eigenthuͤmlichen Gei¬
ſteswerken unendlich hoͤher zu ſchaͤtzen, als die Affec¬
tation attiſcher Feinheit in ihren griechiſchen Copien?
Lange ſchon erſcheinen uns die Franzoſen in ihren
antiken Tragoͤdien nur komiſch, aber wieviel wir uns
darauf einbilden, geſchickter zu copiren, ſo ſind doch
die als muſterhaft anerkannten Voßiſchen Copien nicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0062" n="52"/>
Wei&#x017F;e eine &#x017F;o harmoni&#x017F;che Bildung zu gewinnen &#x017F;<lb/>
chen, als die Griechen zu ihrer Zeit auf ihre Wei&#x017F;e<lb/>
&#x017F;ie gewonnen. La&#x0364;cherlich aber machen wir uns, wenn<lb/>
wir die griechi&#x017F;chen Formen nachku&#x0364;n&#x017F;teln, ohne den<lb/>
Gei&#x017F;t und das Leben, aus welchen &#x017F;ie hervorgingen.<lb/>
Wir &#x017F;ollten un&#x017F;re ge&#x017F;elligen Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e nach un&#x017F;rer<lb/>
Eigenthu&#x0364;mlichkeit &#x017F;o fein ausbilden, wie die Franzo¬<lb/>
&#x017F;en es nach der ihrigen thun. Affen aber &#x017F;ind wir,<lb/>
wenn wir franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;che Floskeln und Bu&#x0364;cklinge nach¬<lb/>
to&#x0364;lpeln. Wir &#x017F;ollten frei und ma&#x0364;nnlich zu denken<lb/>
und zu handeln &#x017F;uchen, wie Engla&#x0364;nder und Amerika¬<lb/>
ner, aber nicht von einer Nacha&#x0364;ffung ihrer a&#x0364;ußerli¬<lb/>
chen In&#x017F;titutionen das Heil erwarten. Wir &#x017F;ollten<lb/>
die Tu&#x0364;chtigkeit und den tiefen Gei&#x017F;t des Mittelalters<lb/>
uns erneuern, aber nicht die alte Tracht und Sprache<lb/>
ku&#x0364;mmerlich affectiren.</p><lb/>
        <p>Die formellen Nachahmungen gleichen den <hi rendition="#g">Moden</hi><lb/>
und haben da&#x017F;&#x017F;elbe Schick&#x017F;al. Eine kurze Zeit gelten<lb/>
&#x017F;ie aus&#x017F;chließlich und man heißt ein Sonderling, wenn<lb/>
man &#x017F;ie nicht mitmacht. Hinterher er&#x017F;cheinen &#x017F;ie alle<lb/>
la&#x0364;cherlich. Auch in Rom galt ein&#x017F;t der griechi&#x017F;che<lb/>
Ge&#x017F;chmack. Wer aber wird an&#x017F;tehn, die Kraft und<lb/>
den Ern&#x017F;t der Ro&#x0364;mer in ihren eigenthu&#x0364;mlichen Gei¬<lb/>
&#x017F;teswerken unendlich ho&#x0364;her zu &#x017F;cha&#x0364;tzen, als die Affec¬<lb/>
tation atti&#x017F;cher Feinheit in ihren griechi&#x017F;chen Copien?<lb/>
Lange &#x017F;chon er&#x017F;cheinen uns die Franzo&#x017F;en in ihren<lb/>
antiken Trago&#x0364;dien nur komi&#x017F;ch, aber wieviel wir uns<lb/>
darauf einbilden, ge&#x017F;chickter zu copiren, &#x017F;o &#x017F;ind doch<lb/>
die als mu&#x017F;terhaft anerkannten Voßi&#x017F;chen Copien nicht<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[52/0062] Weiſe eine ſo harmoniſche Bildung zu gewinnen ſu¬ chen, als die Griechen zu ihrer Zeit auf ihre Weiſe ſie gewonnen. Laͤcherlich aber machen wir uns, wenn wir die griechiſchen Formen nachkuͤnſteln, ohne den Geiſt und das Leben, aus welchen ſie hervorgingen. Wir ſollten unſre geſelligen Verhaͤltniſſe nach unſrer Eigenthuͤmlichkeit ſo fein ausbilden, wie die Franzo¬ ſen es nach der ihrigen thun. Affen aber ſind wir, wenn wir franzoͤſiſche Floskeln und Buͤcklinge nach¬ toͤlpeln. Wir ſollten frei und maͤnnlich zu denken und zu handeln ſuchen, wie Englaͤnder und Amerika¬ ner, aber nicht von einer Nachaͤffung ihrer aͤußerli¬ chen Inſtitutionen das Heil erwarten. Wir ſollten die Tuͤchtigkeit und den tiefen Geiſt des Mittelalters uns erneuern, aber nicht die alte Tracht und Sprache kuͤmmerlich affectiren. Die formellen Nachahmungen gleichen den Moden und haben daſſelbe Schickſal. Eine kurze Zeit gelten ſie ausſchließlich und man heißt ein Sonderling, wenn man ſie nicht mitmacht. Hinterher erſcheinen ſie alle laͤcherlich. Auch in Rom galt einſt der griechiſche Geſchmack. Wer aber wird anſtehn, die Kraft und den Ernſt der Roͤmer in ihren eigenthuͤmlichen Gei¬ ſteswerken unendlich hoͤher zu ſchaͤtzen, als die Affec¬ tation attiſcher Feinheit in ihren griechiſchen Copien? Lange ſchon erſcheinen uns die Franzoſen in ihren antiken Tragoͤdien nur komiſch, aber wieviel wir uns darauf einbilden, geſchickter zu copiren, ſo ſind doch die als muſterhaft anerkannten Voßiſchen Copien nicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/62
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/62>, abgerufen am 25.11.2024.