parteilichkeit bedingen sich aber wechselseitig. Man kann schwerlich die Geister in allen ihren so mannig¬ fach verschiednen Richtungen beobachten, ohne jeder eine gewisse Nothwendigkeit zuzugestehen, ohne in dem Gegensatz, aus welchem sie entsprungen sind, die Pole alles Lebens zu erkennen. Man kann aber auch nicht unparteiisch über den Parteien stehn, ohne den Kampf unter einem epischen Gesichtspunkt aufzufassen und sein großes Gemälde zu überschauen. Im Gewühl des Lebens selbst, gegenüber so mannig¬ fachen und dringenden Interessen und unwillkürlich davon ergriffen, mögen wir zu einer Partei stehen; auf der Höhe der Literatur aber kann nur ein freier unparteiischer Blick in alle Parteiansichten befrie¬ digen. Das Leben ergreift uns als sein Geschöpf, die Masse als ihr Glied, wir können uns von der Gemeinschaft mit der Gesellschaft, mit der Örtlich¬ keit und Zeit nicht lossagen und müssen, eine Welle des lebendigen Stroms, ihn tragend und von ihm getragen, das Loos aller Sterblichen theilen; doch im Innern des Geistes gibt es eine freie Stelle, wo aller Kampf befriedigt, aller Gegensatz versöhnt wer¬ den mag, und die Literatur vergönnt es, diesen festen Stern der Menschenbrust in einem geistigen Univer¬ sum zu verewigen.
Indem wir die Literatur ihrem ganzen Umfang nach in Wechselwirkung mit dem Leben begriffen sehn, unterscheiden wir auf dreifache Weise die Einwirkun¬ gen, welche Natur, Geschichte und geistige Bildung
parteilichkeit bedingen ſich aber wechſelſeitig. Man kann ſchwerlich die Geiſter in allen ihren ſo mannig¬ fach verſchiednen Richtungen beobachten, ohne jeder eine gewiſſe Nothwendigkeit zuzugeſtehen, ohne in dem Gegenſatz, aus welchem ſie entſprungen ſind, die Pole alles Lebens zu erkennen. Man kann aber auch nicht unparteiiſch uͤber den Parteien ſtehn, ohne den Kampf unter einem epiſchen Geſichtspunkt aufzufaſſen und ſein großes Gemaͤlde zu uͤberſchauen. Im Gewuͤhl des Lebens ſelbſt, gegenuͤber ſo mannig¬ fachen und dringenden Intereſſen und unwillkuͤrlich davon ergriffen, moͤgen wir zu einer Partei ſtehen; auf der Hoͤhe der Literatur aber kann nur ein freier unparteiiſcher Blick in alle Parteianſichten befrie¬ digen. Das Leben ergreift uns als ſein Geſchoͤpf, die Maſſe als ihr Glied, wir koͤnnen uns von der Gemeinſchaft mit der Geſellſchaft, mit der Örtlich¬ keit und Zeit nicht losſagen und muͤſſen, eine Welle des lebendigen Stroms, ihn tragend und von ihm getragen, das Loos aller Sterblichen theilen; doch im Innern des Geiſtes gibt es eine freie Stelle, wo aller Kampf befriedigt, aller Gegenſatz verſoͤhnt wer¬ den mag, und die Literatur vergoͤnnt es, dieſen feſten Stern der Menſchenbruſt in einem geiſtigen Univer¬ ſum zu verewigen.
Indem wir die Literatur ihrem ganzen Umfang nach in Wechſelwirkung mit dem Leben begriffen ſehn, unterſcheiden wir auf dreifache Weiſe die Einwirkun¬ gen, welche Natur, Geſchichte und geiſtige Bildung
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parteilichkeit bedingen ſich aber wechſelſeitig. Man
kann ſchwerlich die Geiſter in allen ihren ſo mannig¬
fach verſchiednen Richtungen beobachten, ohne jeder
eine gewiſſe Nothwendigkeit zuzugeſtehen, ohne in
dem Gegenſatz, aus welchem ſie entſprungen ſind,
die Pole alles Lebens zu erkennen. Man kann aber
auch nicht unparteiiſch uͤber den Parteien ſtehn,
ohne den Kampf unter einem epiſchen Geſichtspunkt
aufzufaſſen und ſein großes Gemaͤlde zu uͤberſchauen.
Im Gewuͤhl des Lebens ſelbſt, gegenuͤber ſo mannig¬
fachen und dringenden Intereſſen und unwillkuͤrlich
davon ergriffen, moͤgen wir zu einer Partei ſtehen;
auf der Hoͤhe der Literatur aber kann nur ein freier
unparteiiſcher Blick in alle Parteianſichten befrie¬
digen. Das Leben ergreift uns als ſein Geſchoͤpf,
die Maſſe als ihr Glied, wir koͤnnen uns von der
Gemeinſchaft mit der Geſellſchaft, mit der Örtlich¬
keit und Zeit nicht losſagen und muͤſſen, eine Welle
des lebendigen Stroms, ihn tragend und von ihm
getragen, das Loos aller Sterblichen theilen; doch
im Innern des Geiſtes gibt es eine freie Stelle, wo
aller Kampf befriedigt, aller Gegenſatz verſoͤhnt wer¬
den mag, und die Literatur vergoͤnnt es, dieſen feſten
Stern der Menſchenbruſt in einem geiſtigen Univer¬
ſum zu verewigen.
Indem wir die Literatur ihrem ganzen Umfang
nach in Wechſelwirkung mit dem Leben begriffen ſehn,
unterſcheiden wir auf dreifache Weiſe die Einwirkun¬
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/29>, abgerufen am 16.07.2024.
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