quellenden Kräfte leitete man in den intellectuellen Unterricht ab. Aus der Frömmigkeit und kindlichen Liebe leitete man die Pflicht her, hübsch brav und geduldig zu lernen, und die reiche Bilderwelt der Phantasie plünderte man, um durch sie den Kindern in Bilderfibeln das ABC und in hundert andern Büchern moralische Lehren angenehm zu machen und wie Pillen in einer Überzuckerung einzugeben.
In den Unterhaltungs- und Schulbüchern für das mittlere Jugendalter bemerken wir hauptsächlich vier große Fehler, die sokratische Methode, eine fal¬ sche Vielwisserei, eine falsche Aufklärung und eine falsche Moral. Mag immerhin der Lehrer mündlich sokratisiren, was sollen aber diese Dialoge in den ge¬ druckten Büchern? Keines dieser Bücher kann auf alle möglichen Querfragen der Jugend Rücksicht neh¬ men, und der einfache Gegenstand wird immer da¬ durch verhüllt. Überhaupt aber finden wir überall diese Methode zu früh angewandt. Das "Warum" muß sich der Jugend von selbst aufdrängen, und dann dürfe die Antwort nicht fehlen; quält man es ihr aber früher ab, so bringt die berühmte Hebammen¬ kunst des Geistes auch nur zu frühe Geburten zur Welt. Man muß der Jugend etwas Positives dog¬ matisch einprägen. Sie will nichts andres, es wird ihr nicht einfallen, daran zu klügeln. Entwickelt sich ihr Verstand, so wird sie schon zu zweifeln und zu fragen anfangen, und dann hat sie einen Gegenstand, an dem sie die Kritik üben kann. Aus der Kritik
quellenden Kraͤfte leitete man in den intellectuellen Unterricht ab. Aus der Froͤmmigkeit und kindlichen Liebe leitete man die Pflicht her, huͤbſch brav und geduldig zu lernen, und die reiche Bilderwelt der Phantaſie pluͤnderte man, um durch ſie den Kindern in Bilderfibeln das ABC und in hundert andern Buͤchern moraliſche Lehren angenehm zu machen und wie Pillen in einer Überzuckerung einzugeben.
In den Unterhaltungs- und Schulbuͤchern fuͤr das mittlere Jugendalter bemerken wir hauptſaͤchlich vier große Fehler, die ſokratiſche Methode, eine fal¬ ſche Vielwiſſerei, eine falſche Aufklaͤrung und eine falſche Moral. Mag immerhin der Lehrer muͤndlich ſokratiſiren, was ſollen aber dieſe Dialoge in den ge¬ druckten Buͤchern? Keines dieſer Buͤcher kann auf alle moͤglichen Querfragen der Jugend Ruͤckſicht neh¬ men, und der einfache Gegenſtand wird immer da¬ durch verhuͤllt. Überhaupt aber finden wir uͤberall dieſe Methode zu fruͤh angewandt. Das «Warum» muß ſich der Jugend von ſelbſt aufdraͤngen, und dann duͤrfe die Antwort nicht fehlen; quaͤlt man es ihr aber fruͤher ab, ſo bringt die beruͤhmte Hebammen¬ kunſt des Geiſtes auch nur zu fruͤhe Geburten zur Welt. Man muß der Jugend etwas Poſitives dog¬ matiſch einpraͤgen. Sie will nichts andres, es wird ihr nicht einfallen, daran zu kluͤgeln. Entwickelt ſich ihr Verſtand, ſo wird ſie ſchon zu zweifeln und zu fragen anfangen, und dann hat ſie einen Gegenſtand, an dem ſie die Kritik uͤben kann. Aus der Kritik
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quellenden Kraͤfte leitete man in den intellectuellen
Unterricht ab. Aus der Froͤmmigkeit und kindlichen
Liebe leitete man die Pflicht her, huͤbſch brav und
geduldig zu lernen, und die reiche Bilderwelt der
Phantaſie pluͤnderte man, um durch ſie den Kindern
in Bilderfibeln das ABC und in hundert andern
Buͤchern moraliſche Lehren angenehm zu machen und
wie Pillen in einer Überzuckerung einzugeben.
In den Unterhaltungs- und Schulbuͤchern fuͤr
das mittlere Jugendalter bemerken wir hauptſaͤchlich
vier große Fehler, die ſokratiſche Methode, eine fal¬
ſche Vielwiſſerei, eine falſche Aufklaͤrung und eine
falſche Moral. Mag immerhin der Lehrer muͤndlich
ſokratiſiren, was ſollen aber dieſe Dialoge in den ge¬
druckten Buͤchern? Keines dieſer Buͤcher kann auf
alle moͤglichen Querfragen der Jugend Ruͤckſicht neh¬
men, und der einfache Gegenſtand wird immer da¬
durch verhuͤllt. Überhaupt aber finden wir uͤberall
dieſe Methode zu fruͤh angewandt. Das «Warum»
muß ſich der Jugend von ſelbſt aufdraͤngen, und dann
duͤrfe die Antwort nicht fehlen; quaͤlt man es ihr
aber fruͤher ab, ſo bringt die beruͤhmte Hebammen¬
kunſt des Geiſtes auch nur zu fruͤhe Geburten zur
Welt. Man muß der Jugend etwas Poſitives dog¬
matiſch einpraͤgen. Sie will nichts andres, es wird
ihr nicht einfallen, daran zu kluͤgeln. Entwickelt ſich
ihr Verſtand, ſo wird ſie ſchon zu zweifeln und zu
fragen anfangen, und dann hat ſie einen Gegenſtand,
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/283>, abgerufen am 16.07.2024.
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