Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

das Leben, mehr auf die gelehrte Kaste, als auf das
Volk berechnet. Alle ihre Mängel entstiegen aus dem
Mangel des öffentlichen Lebens. Das Talent des
Geschichtschreibers ist das des Redners. Die Ge¬
schichte wird dann gut geschrieben, wenn die Bege¬
benheiten und ihre Motive uns wie einem versam¬
melten Volke vorgetragen werden, als ob wir noch
darüber entscheiden könnten. Das lebendige drama¬
tische Element darf dem Geschichtforscher nie fehlen.
Der Forscher anatomirt, der Geschichtschreiber läßt
lebendig handeln. Wer nun überhaupt die Begeben¬
heiten aus einem lebendigen Gesichtspunkt ansieht,
mit darin gehandelt, sie vielleicht geleitet hat, wird
auch die Geschichte derselben und überhaupt Geschichte
zu schreiben wissen, der Held, der Staatsmann bes¬
ser, als ein deutscher Stubengelehrter.

Es kommt aber noch hinzu, daß die umständli¬
chen und schwierigen historischen Forschungen der Deut¬
schen eine gute Geschichtschreibung noch immer beinah
unmöglich gemacht haben. Wir betrachten wie billig
die schöne Form als Nebensache, und die Wahrheit
der Thatsachen als Hauptsache. Nun sind wir aber
über alle Gebühr gewissenhaft und können mit dem
unermeßlichen Studium nie fertig werden. In alle
unsre Darstellung mischt sich Kritik, Citat, Polemik,
weil wir nicht blos etwas sagen, sondern es diplo¬
matisch und logisch beweisen wollen. Da ferner jede
gute Geschichtschreibung von der Geschichte der eig¬
nen Nation ausgehn muß, so stellt sich uns hier eine

das Leben, mehr auf die gelehrte Kaſte, als auf das
Volk berechnet. Alle ihre Maͤngel entſtiegen aus dem
Mangel des oͤffentlichen Lebens. Das Talent des
Geſchichtſchreibers iſt das des Redners. Die Ge¬
ſchichte wird dann gut geſchrieben, wenn die Bege¬
benheiten und ihre Motive uns wie einem verſam¬
melten Volke vorgetragen werden, als ob wir noch
daruͤber entſcheiden koͤnnten. Das lebendige drama¬
tiſche Element darf dem Geſchichtforſcher nie fehlen.
Der Forſcher anatomirt, der Geſchichtſchreiber laͤßt
lebendig handeln. Wer nun uͤberhaupt die Begeben¬
heiten aus einem lebendigen Geſichtspunkt anſieht,
mit darin gehandelt, ſie vielleicht geleitet hat, wird
auch die Geſchichte derſelben und uͤberhaupt Geſchichte
zu ſchreiben wiſſen, der Held, der Staatsmann beſ¬
ſer, als ein deutſcher Stubengelehrter.

Es kommt aber noch hinzu, daß die umſtaͤndli¬
chen und ſchwierigen hiſtoriſchen Forſchungen der Deut¬
ſchen eine gute Geſchichtſchreibung noch immer beinah
unmoͤglich gemacht haben. Wir betrachten wie billig
die ſchoͤne Form als Nebenſache, und die Wahrheit
der Thatſachen als Hauptſache. Nun ſind wir aber
uͤber alle Gebuͤhr gewiſſenhaft und koͤnnen mit dem
unermeßlichen Studium nie fertig werden. In alle
unſre Darſtellung miſcht ſich Kritik, Citat, Polemik,
weil wir nicht blos etwas ſagen, ſondern es diplo¬
matiſch und logiſch beweiſen wollen. Da ferner jede
gute Geſchichtſchreibung von der Geſchichte der eig¬
nen Nation ausgehn muß, ſo ſtellt ſich uns hier eine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0222" n="212"/>
das Leben, mehr auf die gelehrte Ka&#x017F;te, als auf das<lb/>
Volk berechnet. Alle ihre Ma&#x0364;ngel ent&#x017F;tiegen aus dem<lb/>
Mangel des o&#x0364;ffentlichen Lebens. Das Talent des<lb/>
Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreibers i&#x017F;t das des Redners. Die Ge¬<lb/>
&#x017F;chichte wird dann gut ge&#x017F;chrieben, wenn die Bege¬<lb/>
benheiten und ihre Motive uns wie einem ver&#x017F;am¬<lb/>
melten Volke vorgetragen werden, als ob wir noch<lb/>
daru&#x0364;ber ent&#x017F;cheiden ko&#x0364;nnten. Das lebendige drama¬<lb/>
ti&#x017F;che Element darf dem Ge&#x017F;chichtfor&#x017F;cher nie fehlen.<lb/>
Der For&#x017F;cher anatomirt, der Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreiber la&#x0364;ßt<lb/>
lebendig handeln. Wer nun u&#x0364;berhaupt die Begeben¬<lb/>
heiten aus einem lebendigen Ge&#x017F;ichtspunkt an&#x017F;ieht,<lb/>
mit darin gehandelt, &#x017F;ie vielleicht geleitet hat, wird<lb/>
auch die Ge&#x017F;chichte der&#x017F;elben und u&#x0364;berhaupt Ge&#x017F;chichte<lb/>
zu &#x017F;chreiben wi&#x017F;&#x017F;en, der Held, der Staatsmann be&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;er, als ein deut&#x017F;cher Stubengelehrter.</p><lb/>
        <p>Es kommt aber noch hinzu, daß die um&#x017F;ta&#x0364;ndli¬<lb/>
chen und &#x017F;chwierigen hi&#x017F;tori&#x017F;chen For&#x017F;chungen der Deut¬<lb/>
&#x017F;chen eine gute Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreibung noch immer beinah<lb/>
unmo&#x0364;glich gemacht haben. Wir betrachten wie billig<lb/>
die &#x017F;cho&#x0364;ne Form als Neben&#x017F;ache, und die Wahrheit<lb/>
der That&#x017F;achen als Haupt&#x017F;ache. Nun &#x017F;ind wir aber<lb/>
u&#x0364;ber alle Gebu&#x0364;hr gewi&#x017F;&#x017F;enhaft und ko&#x0364;nnen mit dem<lb/>
unermeßlichen Studium nie fertig werden. In alle<lb/>
un&#x017F;re Dar&#x017F;tellung mi&#x017F;cht &#x017F;ich Kritik, Citat, Polemik,<lb/>
weil wir nicht blos etwas &#x017F;agen, &#x017F;ondern es diplo¬<lb/>
mati&#x017F;ch und logi&#x017F;ch bewei&#x017F;en wollen. Da ferner jede<lb/>
gute Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreibung von der Ge&#x017F;chichte der eig¬<lb/>
nen Nation ausgehn muß, &#x017F;o &#x017F;tellt &#x017F;ich uns hier eine<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[212/0222] das Leben, mehr auf die gelehrte Kaſte, als auf das Volk berechnet. Alle ihre Maͤngel entſtiegen aus dem Mangel des oͤffentlichen Lebens. Das Talent des Geſchichtſchreibers iſt das des Redners. Die Ge¬ ſchichte wird dann gut geſchrieben, wenn die Bege¬ benheiten und ihre Motive uns wie einem verſam¬ melten Volke vorgetragen werden, als ob wir noch daruͤber entſcheiden koͤnnten. Das lebendige drama¬ tiſche Element darf dem Geſchichtforſcher nie fehlen. Der Forſcher anatomirt, der Geſchichtſchreiber laͤßt lebendig handeln. Wer nun uͤberhaupt die Begeben¬ heiten aus einem lebendigen Geſichtspunkt anſieht, mit darin gehandelt, ſie vielleicht geleitet hat, wird auch die Geſchichte derſelben und uͤberhaupt Geſchichte zu ſchreiben wiſſen, der Held, der Staatsmann beſ¬ ſer, als ein deutſcher Stubengelehrter. Es kommt aber noch hinzu, daß die umſtaͤndli¬ chen und ſchwierigen hiſtoriſchen Forſchungen der Deut¬ ſchen eine gute Geſchichtſchreibung noch immer beinah unmoͤglich gemacht haben. Wir betrachten wie billig die ſchoͤne Form als Nebenſache, und die Wahrheit der Thatſachen als Hauptſache. Nun ſind wir aber uͤber alle Gebuͤhr gewiſſenhaft und koͤnnen mit dem unermeßlichen Studium nie fertig werden. In alle unſre Darſtellung miſcht ſich Kritik, Citat, Polemik, weil wir nicht blos etwas ſagen, ſondern es diplo¬ matiſch und logiſch beweiſen wollen. Da ferner jede gute Geſchichtſchreibung von der Geſchichte der eig¬ nen Nation ausgehn muß, ſo ſtellt ſich uns hier eine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/222
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/222>, abgerufen am 25.11.2024.