nichts verwerfen oder verbessern, sondern nimmt die Dinge, wie sie sind, und mißt jedes nur nach dem in ihm liegenden Maaßstab. Sie wird z. B. das Mit¬ telalter nicht verwerfen, weil es der Freiheit im an¬ tiken oder modernen Sinn nicht huldigte, oder prei¬ sen, weil in ihm die Privilegien der Enkel begründet sind, sondern sie wird es abgesehn von unsern gegen¬ wärtigen Interessen nach den Interessen seines Vol¬ kes, seines Geistes würdigen. Sie wird es für über¬ flüßig halten, von jenen Menschen zu verlangen, was nur für die heutigen gilt. Sie wird ihnen das, was sie für wünschenswerth und heilig gehalten haben, weder beneiden, noch verspotten, sondern sie nach ihrem eignen Glauben wägen und schätzen. Erst da¬ durch wird die Geschichte, was sie seyn soll, ein treuer Spiegel der Vergangenheit. Man kann sie nicht objectiv genug auffassen; jede subjective Aus¬ schweifung trübt ihren Spiegel. Glossen mag die Philosophie machen, der Geschichte selbst gilt nur der einfache Text.
Im Allgemeinen hat unsre Geschichtforschung fol¬ gende Entwicklungen erlebt. Nach dem dreißigjährigen Kriege fielen die Deutschen in Lethargie und erwach¬ ten erst im achtzehnten Jahrhundert in fieberhaften Träumen. Zu den Erscheinungen jener phlegmatischen Zeit gehören auch die langweiligen historischen Samm¬ lungen und Commentare, zu denen der cholerischen Extase gehört der historische Scepticismus des vorigen Jahrhunderts. Überall sahen wir zuerst einen
nichts verwerfen oder verbeſſern, ſondern nimmt die Dinge, wie ſie ſind, und mißt jedes nur nach dem in ihm liegenden Maaßſtab. Sie wird z. B. das Mit¬ telalter nicht verwerfen, weil es der Freiheit im an¬ tiken oder modernen Sinn nicht huldigte, oder prei¬ ſen, weil in ihm die Privilegien der Enkel begruͤndet ſind, ſondern ſie wird es abgeſehn von unſern gegen¬ waͤrtigen Intereſſen nach den Intereſſen ſeines Vol¬ kes, ſeines Geiſtes wuͤrdigen. Sie wird es fuͤr uͤber¬ fluͤßig halten, von jenen Menſchen zu verlangen, was nur fuͤr die heutigen gilt. Sie wird ihnen das, was ſie fuͤr wuͤnſchenswerth und heilig gehalten haben, weder beneiden, noch verſpotten, ſondern ſie nach ihrem eignen Glauben waͤgen und ſchaͤtzen. Erſt da¬ durch wird die Geſchichte, was ſie ſeyn ſoll, ein treuer Spiegel der Vergangenheit. Man kann ſie nicht objectiv genug auffaſſen; jede ſubjective Aus¬ ſchweifung truͤbt ihren Spiegel. Gloſſen mag die Philoſophie machen, der Geſchichte ſelbſt gilt nur der einfache Text.
Im Allgemeinen hat unſre Geſchichtforſchung fol¬ gende Entwicklungen erlebt. Nach dem dreißigjaͤhrigen Kriege fielen die Deutſchen in Lethargie und erwach¬ ten erſt im achtzehnten Jahrhundert in fieberhaften Traͤumen. Zu den Erſcheinungen jener phlegmatiſchen Zeit gehoͤren auch die langweiligen hiſtoriſchen Samm¬ lungen und Commentare, zu denen der choleriſchen Extaſe gehoͤrt der hiſtoriſche Scepticismus des vorigen Jahrhunderts. Überall ſahen wir zuerſt einen
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nichts verwerfen oder verbeſſern, ſondern nimmt die
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in ihm liegenden Maaßſtab. Sie wird z. B. das Mit¬
telalter nicht verwerfen, weil es der Freiheit im an¬
tiken oder modernen Sinn nicht huldigte, oder prei¬
ſen, weil in ihm die Privilegien der Enkel begruͤndet
ſind, ſondern ſie wird es abgeſehn von unſern gegen¬
waͤrtigen Intereſſen nach den Intereſſen ſeines Vol¬
kes, ſeines Geiſtes wuͤrdigen. Sie wird es fuͤr uͤber¬
fluͤßig halten, von jenen Menſchen zu verlangen, was
nur fuͤr die heutigen gilt. Sie wird ihnen das, was
ſie fuͤr wuͤnſchenswerth und heilig gehalten haben,
weder beneiden, noch verſpotten, ſondern ſie nach
ihrem eignen Glauben waͤgen und ſchaͤtzen. Erſt da¬
durch wird die Geſchichte, was ſie ſeyn ſoll, ein
treuer Spiegel der Vergangenheit. Man kann ſie
nicht objectiv genug auffaſſen; jede ſubjective Aus¬
ſchweifung truͤbt ihren Spiegel. Gloſſen mag die
Philoſophie machen, der Geſchichte ſelbſt gilt nur
der einfache Text.
Im Allgemeinen hat unſre Geſchichtforſchung fol¬
gende Entwicklungen erlebt. Nach dem dreißigjaͤhrigen
Kriege fielen die Deutſchen in Lethargie und erwach¬
ten erſt im achtzehnten Jahrhundert in fieberhaften
Traͤumen. Zu den Erſcheinungen jener phlegmatiſchen
Zeit gehoͤren auch die langweiligen hiſtoriſchen Samm¬
lungen und Commentare, zu denen der choleriſchen
Extaſe gehoͤrt der hiſtoriſche Scepticismus des
vorigen Jahrhunderts. Überall ſahen wir zuerſt einen
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/216>, abgerufen am 16.02.2025.
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