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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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classischen Philologen vereinigen sich dahin, daß die
Menschen sich allmählig aus dem rohesten thierischen
Zustande zur Bildung erhoben und im griechisch-rö¬
mischen Alterthum die erste Reife gewonnen hätten,
daß darauf die Barbarei wieder eingerissen und erst
mit der Reformation eine neue höhere Entwicklung
vorbereitet worden wäre, welche noch jetzt gegen die
Barbarei kämpfen müsse. Die Katholiken, Royali¬
sten und die orientalischen Philologen nehmen dage¬
gen ein heiliges, vollkommnes Urvolk an, das in
Sünde verfallen, durch das Christenthum wieder ge¬
heiligt, aber nochmals in sündigen Abfall und Ver¬
irrung gerathen sey. Jene glauben an eine fortschrei¬
tende, mühsame Befreiung des Menschengeschlechts,
diese an eine beständige Verschlimmerung durch die
Erbsünde und Versöhnung durch die göttliche Gnade.
Aber was die erstern ein Freiwerden nennen, heißen
die andern das Werk des Satans, und umgekehrt
nennen jene Barbarei, was diese das Reich Gottes
auf Erden nennen. Diese verschiednen Ansichten of¬
fenbaren sich vorzüglich bei der historischen Betrach¬
tung des Mittelalters, das die Einen beständig ver¬
dammen, die Andern preisen.

Die Anzahl derer, welche die Geschichte in ihrem
ganzen Umfang unparteiisch auf dichterische Weise
als ein Epos oder gleichsam naturhistorisch als einen
Organismus betrachten, ist verhältnißmäßig noch sehr
gering, und doch ist diese Ansicht die einzig würdige.
Sie geht von keiner vorgefaßten Meinung aus, will

claſſiſchen Philologen vereinigen ſich dahin, daß die
Menſchen ſich allmaͤhlig aus dem roheſten thieriſchen
Zuſtande zur Bildung erhoben und im griechiſch-roͤ¬
miſchen Alterthum die erſte Reife gewonnen haͤtten,
daß darauf die Barbarei wieder eingeriſſen und erſt
mit der Reformation eine neue hoͤhere Entwicklung
vorbereitet worden waͤre, welche noch jetzt gegen die
Barbarei kaͤmpfen muͤſſe. Die Katholiken, Royali¬
ſten und die orientaliſchen Philologen nehmen dage¬
gen ein heiliges, vollkommnes Urvolk an, das in
Suͤnde verfallen, durch das Chriſtenthum wieder ge¬
heiligt, aber nochmals in ſuͤndigen Abfall und Ver¬
irrung gerathen ſey. Jene glauben an eine fortſchrei¬
tende, muͤhſame Befreiung des Menſchengeſchlechts,
dieſe an eine beſtaͤndige Verſchlimmerung durch die
Erbſuͤnde und Verſoͤhnung durch die goͤttliche Gnade.
Aber was die erſtern ein Freiwerden nennen, heißen
die andern das Werk des Satans, und umgekehrt
nennen jene Barbarei, was dieſe das Reich Gottes
auf Erden nennen. Dieſe verſchiednen Anſichten of¬
fenbaren ſich vorzuͤglich bei der hiſtoriſchen Betrach¬
tung des Mittelalters, das die Einen beſtaͤndig ver¬
dammen, die Andern preiſen.

Die Anzahl derer, welche die Geſchichte in ihrem
ganzen Umfang unparteiiſch auf dichteriſche Weiſe
als ein Epos oder gleichſam naturhiſtoriſch als einen
Organismus betrachten, iſt verhaͤltnißmaͤßig noch ſehr
gering, und doch iſt dieſe Anſicht die einzig wuͤrdige.
Sie geht von keiner vorgefaßten Meinung aus, will

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[205/0215] claſſiſchen Philologen vereinigen ſich dahin, daß die Menſchen ſich allmaͤhlig aus dem roheſten thieriſchen Zuſtande zur Bildung erhoben und im griechiſch-roͤ¬ miſchen Alterthum die erſte Reife gewonnen haͤtten, daß darauf die Barbarei wieder eingeriſſen und erſt mit der Reformation eine neue hoͤhere Entwicklung vorbereitet worden waͤre, welche noch jetzt gegen die Barbarei kaͤmpfen muͤſſe. Die Katholiken, Royali¬ ſten und die orientaliſchen Philologen nehmen dage¬ gen ein heiliges, vollkommnes Urvolk an, das in Suͤnde verfallen, durch das Chriſtenthum wieder ge¬ heiligt, aber nochmals in ſuͤndigen Abfall und Ver¬ irrung gerathen ſey. Jene glauben an eine fortſchrei¬ tende, muͤhſame Befreiung des Menſchengeſchlechts, dieſe an eine beſtaͤndige Verſchlimmerung durch die Erbſuͤnde und Verſoͤhnung durch die goͤttliche Gnade. Aber was die erſtern ein Freiwerden nennen, heißen die andern das Werk des Satans, und umgekehrt nennen jene Barbarei, was dieſe das Reich Gottes auf Erden nennen. Dieſe verſchiednen Anſichten of¬ fenbaren ſich vorzuͤglich bei der hiſtoriſchen Betrach¬ tung des Mittelalters, das die Einen beſtaͤndig ver¬ dammen, die Andern preiſen. Die Anzahl derer, welche die Geſchichte in ihrem ganzen Umfang unparteiiſch auf dichteriſche Weiſe als ein Epos oder gleichſam naturhiſtoriſch als einen Organismus betrachten, iſt verhaͤltnißmaͤßig noch ſehr gering, und doch iſt dieſe Anſicht die einzig wuͤrdige. Sie geht von keiner vorgefaßten Meinung aus, will

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/215>, abgerufen am 25.11.2024.