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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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entzogen worden ist, hat keineswegs gewuchert, wie
man erwarten sollte.

Die Philologie ist das Mittel für die Zwecke
andrer Wissenschaften, aber das Mittel ist selbst zum
Zwecke geworden. Man soll die alten Sprachen ler¬
nen, um den darin uns überlieferten Inhalt zu ver¬
stehn, aber die Philologen betrachten diesen Inhalt
nur als ein nothwendiges Übel, ohne welches die
Sprache nicht seyn kann, und behandeln die alten
Classiker so, als ob sie Schönes und Großes nur ge¬
dacht hätten, um die Grammatik anzuwenden. Jeder
alte Autor ist ihnen nur eine besondre Beispielsamm¬
lung für die Grammatik. Man soll die Alten lesen
um darnach zu leben, aber die Philologen meinen,
man solle nur leben, um die Alten zu lesen.

Man hat in der neuesten Zeit in der Philologie
ein bewahrtes Mittel gefunden, den politischen Ver¬
irrungen der Jugend zu begegnen. Man hat gefun¬
den, daß nichts so sehr den Feuereifer niederschlägt,
und zu blinden Gehorsam gewöhnt, als diese Philo¬
logie, die das beflügelte Genie an den Bücherschrank
kettet, und den Scharfsinn in die Grammatik, die
Neuerungssucht in Conjecturen ableitet. Alle Spring¬
federn des Geistes erschlaffen unter der Last der
Buchstaben. Der Jüngling muß immer sitzen und
verlernt das Aufstehn. Alle Freiheit wird erstickt un¬
ter der Last der Autoritäten und Citate. Der Jüng¬
ling muß nur immer lesen und auswendig lernen,
und verlernt das Selbstdenken. Alle wahre Bildung

entzogen worden iſt, hat keineswegs gewuchert, wie
man erwarten ſollte.

Die Philologie iſt das Mittel fuͤr die Zwecke
andrer Wiſſenſchaften, aber das Mittel iſt ſelbſt zum
Zwecke geworden. Man ſoll die alten Sprachen ler¬
nen, um den darin uns uͤberlieferten Inhalt zu ver¬
ſtehn, aber die Philologen betrachten dieſen Inhalt
nur als ein nothwendiges Übel, ohne welches die
Sprache nicht ſeyn kann, und behandeln die alten
Claſſiker ſo, als ob ſie Schoͤnes und Großes nur ge¬
dacht haͤtten, um die Grammatik anzuwenden. Jeder
alte Autor iſt ihnen nur eine beſondre Beiſpielſamm¬
lung fuͤr die Grammatik. Man ſoll die Alten leſen
um darnach zu leben, aber die Philologen meinen,
man ſolle nur leben, um die Alten zu leſen.

Man hat in der neueſten Zeit in der Philologie
ein bewahrtes Mittel gefunden, den politiſchen Ver¬
irrungen der Jugend zu begegnen. Man hat gefun¬
den, daß nichts ſo ſehr den Feuereifer niederſchlaͤgt,
und zu blinden Gehorſam gewoͤhnt, als dieſe Philo¬
logie, die das befluͤgelte Genie an den Buͤcherſchrank
kettet, und den Scharfſinn in die Grammatik, die
Neuerungsſucht in Conjecturen ableitet. Alle Spring¬
federn des Geiſtes erſchlaffen unter der Laſt der
Buchſtaben. Der Juͤngling muß immer ſitzen und
verlernt das Aufſtehn. Alle Freiheit wird erſtickt un¬
ter der Laſt der Autoritaͤten und Citate. Der Juͤng¬
ling muß nur immer leſen und auswendig lernen,
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[197/0207] entzogen worden iſt, hat keineswegs gewuchert, wie man erwarten ſollte. Die Philologie iſt das Mittel fuͤr die Zwecke andrer Wiſſenſchaften, aber das Mittel iſt ſelbſt zum Zwecke geworden. Man ſoll die alten Sprachen ler¬ nen, um den darin uns uͤberlieferten Inhalt zu ver¬ ſtehn, aber die Philologen betrachten dieſen Inhalt nur als ein nothwendiges Übel, ohne welches die Sprache nicht ſeyn kann, und behandeln die alten Claſſiker ſo, als ob ſie Schoͤnes und Großes nur ge¬ dacht haͤtten, um die Grammatik anzuwenden. Jeder alte Autor iſt ihnen nur eine beſondre Beiſpielſamm¬ lung fuͤr die Grammatik. Man ſoll die Alten leſen um darnach zu leben, aber die Philologen meinen, man ſolle nur leben, um die Alten zu leſen. Man hat in der neueſten Zeit in der Philologie ein bewahrtes Mittel gefunden, den politiſchen Ver¬ irrungen der Jugend zu begegnen. Man hat gefun¬ den, daß nichts ſo ſehr den Feuereifer niederſchlaͤgt, und zu blinden Gehorſam gewoͤhnt, als dieſe Philo¬ logie, die das befluͤgelte Genie an den Buͤcherſchrank kettet, und den Scharfſinn in die Grammatik, die Neuerungsſucht in Conjecturen ableitet. Alle Spring¬ federn des Geiſtes erſchlaffen unter der Laſt der Buchſtaben. Der Juͤngling muß immer ſitzen und verlernt das Aufſtehn. Alle Freiheit wird erſtickt un¬ ter der Laſt der Autoritaͤten und Citate. Der Juͤng¬ ling muß nur immer leſen und auswendig lernen, und verlernt das Selbſtdenken. Alle wahre Bildung

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/207>, abgerufen am 23.11.2024.