ohne Unterricht, werden sie sich auch viel¬ wissend zu seyn dünken, da sie doch unwis¬ send größtentheils sind, und schwer zu be¬ handeln, nachdem sie dünkelweise gewor¬ den statt weise." (Platon's Phaidros, 274.)
Diese Worte mögen uns bei den nachfolgenden Betrachtungen eingedenk bleiben und uns als eine leise, warnende Stimme immer in den Ohren klingen, wenn wir, wie es zu geschehen pflegt, von den Herr¬ lichkeiten der Literatur geblendet, das Leben darüber vergessen sollten. Mit Recht haben die praktischen Menschen die Bücher nie recht leiden können, weil sie den Sinn vom frischen, thätigen Leben hinweg in eine nichtige Welt des Scheins verlocken. Tiefer aber haben mit Platon die Herzenskundigen und die echten Denker jederzeit den Buchstaben vom lebendi¬ gen Gefühl und Gedanken unterschieden, und die Li¬ teratur, die Welt der Worte, nicht nur der Welt der Thaten, sondern auch der innern, stillen Welt der Seele untergeordnet.
Auf unendliche Weise steht das Wort dem Leben entgegen, wenn es auch nur aus ihm hervorgeht. Es ist das erstarrte Leben, sein Leichnam oder Schat¬ ten. Es ist unveränderlich, unbeweglich; von einem Wort läßt sich kein Jota rauben, sagt der Dichter, es ist an die ewigen Sterne befestigt, und der Geist, aus dem es geboren ist, hat keinen Antheil mehr daran. Das Wort hat Dauer, das Leben Wechsel, das Wort ist fertig, das Leben bildet sich.
ohne Unterricht, werden ſie ſich auch viel¬ wiſſend zu ſeyn duͤnken, da ſie doch unwiſ¬ ſend groͤßtentheils ſind, und ſchwer zu be¬ handeln, nachdem ſie duͤnkelweiſe gewor¬ den ſtatt weiſe.» (Platon's Phaidros, 274.)
Dieſe Worte moͤgen uns bei den nachfolgenden Betrachtungen eingedenk bleiben und uns als eine leiſe, warnende Stimme immer in den Ohren klingen, wenn wir, wie es zu geſchehen pflegt, von den Herr¬ lichkeiten der Literatur geblendet, das Leben daruͤber vergeſſen ſollten. Mit Recht haben die praktiſchen Menſchen die Buͤcher nie recht leiden koͤnnen, weil ſie den Sinn vom friſchen, thaͤtigen Leben hinweg in eine nichtige Welt des Scheins verlocken. Tiefer aber haben mit Platon die Herzenskundigen und die echten Denker jederzeit den Buchſtaben vom lebendi¬ gen Gefuͤhl und Gedanken unterſchieden, und die Li¬ teratur, die Welt der Worte, nicht nur der Welt der Thaten, ſondern auch der innern, ſtillen Welt der Seele untergeordnet.
Auf unendliche Weiſe ſteht das Wort dem Leben entgegen, wenn es auch nur aus ihm hervorgeht. Es iſt das erſtarrte Leben, ſein Leichnam oder Schat¬ ten. Es iſt unveraͤnderlich, unbeweglich; von einem Wort laͤßt ſich kein Jota rauben, ſagt der Dichter, es iſt an die ewigen Sterne befeſtigt, und der Geiſt, aus dem es geboren iſt, hat keinen Antheil mehr daran. Das Wort hat Dauer, das Leben Wechſel, das Wort iſt fertig, das Leben bildet ſich.
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handeln, nachdem ſie duͤnkelweiſe gewor¬
den ſtatt weiſe.» (Platon's Phaidros, 274.)
Dieſe Worte moͤgen uns bei den nachfolgenden
Betrachtungen eingedenk bleiben und uns als eine
leiſe, warnende Stimme immer in den Ohren klingen,
wenn wir, wie es zu geſchehen pflegt, von den Herr¬
lichkeiten der Literatur geblendet, das Leben daruͤber
vergeſſen ſollten. Mit Recht haben die praktiſchen
Menſchen die Buͤcher nie recht leiden koͤnnen, weil
ſie den Sinn vom friſchen, thaͤtigen Leben hinweg in
eine nichtige Welt des Scheins verlocken. Tiefer
aber haben mit Platon die Herzenskundigen und die
echten Denker jederzeit den Buchſtaben vom lebendi¬
gen Gefuͤhl und Gedanken unterſchieden, und die Li¬
teratur, die Welt der Worte, nicht nur der Welt
der Thaten, ſondern auch der innern, ſtillen Welt
der Seele untergeordnet.
Auf unendliche Weiſe ſteht das Wort dem Leben
entgegen, wenn es auch nur aus ihm hervorgeht.
Es iſt das erſtarrte Leben, ſein Leichnam oder Schat¬
ten. Es iſt unveraͤnderlich, unbeweglich; von einem
Wort laͤßt ſich kein Jota rauben, ſagt der Dichter,
es iſt an die ewigen Sterne befeſtigt, und der Geiſt,
aus dem es geboren iſt, hat keinen Antheil mehr
daran. Das Wort hat Dauer, das Leben Wechſel,
das Wort iſt fertig, das Leben bildet ſich.
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/20>, abgerufen am 16.02.2025.
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