Worten ab, als beruhe überhaupt alle Religion auf Satzungen. Dieses Vorurtheil hat fast alle Menschen total verblendet, während sie doch ein ganz entge¬ gengesetzter Erfolg beständig in die Augen schlägt. So hat man den Katholicismus zu stürzen ge¬ glaubt, indem man seinen todten Schatten in Sa¬ tzungen und Worten angegriffen. So glaubt man auch, der Unterschied zwischen Lutheranern und Re¬ formirten bestehe nur in ein paar Satzungen, und sey verschwunden, so bald man diese ändre. Aber dergleichen Satzungen sind immer nur ein Schibo¬ leth, oft ein ganz zufälliges, von Parteien, die auf etwas ganz anderes, als auf Worte und Buchstaben, die auf den ursprünglichen Unterschied in der Natur der Geister gegründet sind. Die Reformirten unter¬ scheiden sich nur äußerlich durch das leicht zu än¬ dernde Schiboleth, innerlich aber durch die unver¬ änderliche Tendenz zum Denkglauben, zum Kriticis¬ mus, zur eigenen Überzeugung durch eigenes For¬ schen, mithin auch zur Nonconformität und beständi¬ gen Kirchentrennung. Verständen die theologischen Diplomaten, die das Arrondirungssystem auch ins un¬ sichtbare Geisterreich hinübertragen wollen, die Sprache der Geister, so würden sie sogleich entdecken, daß es eine contradictio in adjecto sey, die Reformirten mit den Lutheranern, oder in höherem Sinn die Denk¬ gläubigen mit den Wortgläubigen vereinigen zu wol¬ len. Man muß nicht sowohl auf die Namen, als auf die Sache sehn. Es hat Denk- und Wortgläu¬
Worten ab, als beruhe uͤberhaupt alle Religion auf Satzungen. Dieſes Vorurtheil hat faſt alle Menſchen total verblendet, waͤhrend ſie doch ein ganz entge¬ gengeſetzter Erfolg beſtaͤndig in die Augen ſchlaͤgt. So hat man den Katholicismus zu ſtuͤrzen ge¬ glaubt, indem man ſeinen todten Schatten in Sa¬ tzungen und Worten angegriffen. So glaubt man auch, der Unterſchied zwiſchen Lutheranern und Re¬ formirten beſtehe nur in ein paar Satzungen, und ſey verſchwunden, ſo bald man dieſe aͤndre. Aber dergleichen Satzungen ſind immer nur ein Schibo¬ leth, oft ein ganz zufaͤlliges, von Parteien, die auf etwas ganz anderes, als auf Worte und Buchſtaben, die auf den urſpruͤnglichen Unterſchied in der Natur der Geiſter gegruͤndet ſind. Die Reformirten unter¬ ſcheiden ſich nur aͤußerlich durch das leicht zu aͤn¬ dernde Schiboleth, innerlich aber durch die unver¬ aͤnderliche Tendenz zum Denkglauben, zum Kriticis¬ mus, zur eigenen Überzeugung durch eigenes For¬ ſchen, mithin auch zur Nonconformitaͤt und beſtaͤndi¬ gen Kirchentrennung. Verſtaͤnden die theologiſchen Diplomaten, die das Arrondirungsſyſtem auch ins un¬ ſichtbare Geiſterreich hinuͤbertragen wollen, die Sprache der Geiſter, ſo wuͤrden ſie ſogleich entdecken, daß es eine contradictio in adjecto ſey, die Reformirten mit den Lutheranern, oder in hoͤherem Sinn die Denk¬ glaͤubigen mit den Wortglaͤubigen vereinigen zu wol¬ len. Man muß nicht ſowohl auf die Namen, als auf die Sache ſehn. Es hat Denk- und Wortglaͤu¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0153"n="143"/>
Worten ab, als beruhe uͤberhaupt alle Religion auf<lb/>
Satzungen. Dieſes Vorurtheil hat faſt alle Menſchen<lb/>
total verblendet, waͤhrend ſie doch ein ganz entge¬<lb/>
gengeſetzter Erfolg beſtaͤndig in die Augen ſchlaͤgt.<lb/>
So hat man den Katholicismus zu ſtuͤrzen ge¬<lb/>
glaubt, indem man ſeinen todten Schatten in Sa¬<lb/>
tzungen und Worten angegriffen. So glaubt man<lb/>
auch, der Unterſchied zwiſchen Lutheranern und Re¬<lb/>
formirten beſtehe nur in ein paar Satzungen, und<lb/>ſey verſchwunden, ſo bald man dieſe aͤndre. Aber<lb/>
dergleichen Satzungen ſind immer nur ein Schibo¬<lb/>
leth, oft ein ganz zufaͤlliges, von Parteien, die auf<lb/>
etwas ganz anderes, als auf Worte und Buchſtaben,<lb/>
die auf den urſpruͤnglichen Unterſchied in der Natur<lb/>
der Geiſter gegruͤndet ſind. Die Reformirten unter¬<lb/>ſcheiden ſich nur aͤußerlich durch das leicht zu aͤn¬<lb/>
dernde Schiboleth, innerlich aber durch die unver¬<lb/>
aͤnderliche Tendenz zum Denkglauben, zum Kriticis¬<lb/>
mus, zur eigenen Überzeugung durch eigenes For¬<lb/>ſchen, mithin auch zur Nonconformitaͤt und beſtaͤndi¬<lb/>
gen Kirchentrennung. Verſtaͤnden die theologiſchen<lb/>
Diplomaten, die das Arrondirungsſyſtem auch ins un¬<lb/>ſichtbare Geiſterreich hinuͤbertragen wollen, die Sprache<lb/>
der Geiſter, ſo wuͤrden ſie ſogleich entdecken, daß es<lb/>
eine <hirendition="#aq">contradictio in adjecto</hi>ſey, die Reformirten mit<lb/>
den Lutheranern, oder in hoͤherem Sinn die Denk¬<lb/>
glaͤubigen mit den Wortglaͤubigen vereinigen zu wol¬<lb/>
len. Man muß nicht ſowohl auf die Namen, als<lb/>
auf die Sache ſehn. Es hat Denk- und Wortglaͤu¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[143/0153]
Worten ab, als beruhe uͤberhaupt alle Religion auf
Satzungen. Dieſes Vorurtheil hat faſt alle Menſchen
total verblendet, waͤhrend ſie doch ein ganz entge¬
gengeſetzter Erfolg beſtaͤndig in die Augen ſchlaͤgt.
So hat man den Katholicismus zu ſtuͤrzen ge¬
glaubt, indem man ſeinen todten Schatten in Sa¬
tzungen und Worten angegriffen. So glaubt man
auch, der Unterſchied zwiſchen Lutheranern und Re¬
formirten beſtehe nur in ein paar Satzungen, und
ſey verſchwunden, ſo bald man dieſe aͤndre. Aber
dergleichen Satzungen ſind immer nur ein Schibo¬
leth, oft ein ganz zufaͤlliges, von Parteien, die auf
etwas ganz anderes, als auf Worte und Buchſtaben,
die auf den urſpruͤnglichen Unterſchied in der Natur
der Geiſter gegruͤndet ſind. Die Reformirten unter¬
ſcheiden ſich nur aͤußerlich durch das leicht zu aͤn¬
dernde Schiboleth, innerlich aber durch die unver¬
aͤnderliche Tendenz zum Denkglauben, zum Kriticis¬
mus, zur eigenen Überzeugung durch eigenes For¬
ſchen, mithin auch zur Nonconformitaͤt und beſtaͤndi¬
gen Kirchentrennung. Verſtaͤnden die theologiſchen
Diplomaten, die das Arrondirungsſyſtem auch ins un¬
ſichtbare Geiſterreich hinuͤbertragen wollen, die Sprache
der Geiſter, ſo wuͤrden ſie ſogleich entdecken, daß es
eine contradictio in adjecto ſey, die Reformirten mit
den Lutheranern, oder in hoͤherem Sinn die Denk¬
glaͤubigen mit den Wortglaͤubigen vereinigen zu wol¬
len. Man muß nicht ſowohl auf die Namen, als
auf die Sache ſehn. Es hat Denk- und Wortglaͤu¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/153>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.