neidet jeden um dem mindesten Vorzug an Macht, Reichtum, Schönheit, Ehre u. s. w., nur nicht um den Vorzug an Gütigkeit. Und wie kann er auch dieses, da es doch größten- theils nur von ihm selbst abhängt, den Grad von Sanftmuth zu erlangen, den er beneidens- werth findet? Es gehört Nachsinnen dazu, wenn wir begreifen sollen, daß Haß und Rach- sucht, Neid und Grausamkeit, im Grunde nichts anders als Schwachheit, lediglich Wir- kungen der Furcht sind. Furcht, mit zufälliger, unsicherer Ueberlegenheit verbunden, ist die Mut- ter aller dieser barbarischen Gesinnungen. Nur die Furcht macht grausam und unversöhnlich. Wer sich seiner Ueberlegenheit mit Sicherheit bewußt ist, findet weit größre Glückseligkeit in Nachsicht und Verzeihung.
Hat man erst dieses einsehen gelernt, so kann man nicht länger Anstand nehmen, Liebe für einen wenigstens eben so erhabenen Vorzug zu halten als Macht, und dem allerhöchsten We- sen, dem man Allmacht zuschreibt, auch Allgü- tigkeit zuzutrauen; den Gott der Stärke auch für den Gott der Liebe zu erkennen. Aber wie
weit
neidet jeden um dem mindeſten Vorzug an Macht, Reichtum, Schoͤnheit, Ehre u. ſ. w., nur nicht um den Vorzug an Guͤtigkeit. Und wie kann er auch dieſes, da es doch groͤßten- theils nur von ihm ſelbſt abhaͤngt, den Grad von Sanftmuth zu erlangen, den er beneidens- werth findet? Es gehoͤrt Nachſinnen dazu, wenn wir begreifen ſollen, daß Haß und Rach- ſucht, Neid und Grauſamkeit, im Grunde nichts anders als Schwachheit, lediglich Wir- kungen der Furcht ſind. Furcht, mit zufaͤlliger, unſicherer Ueberlegenheit verbunden, iſt die Mut- ter aller dieſer barbariſchen Geſinnungen. Nur die Furcht macht grauſam und unverſoͤhnlich. Wer ſich ſeiner Ueberlegenheit mit Sicherheit bewußt iſt, findet weit groͤßre Gluͤckſeligkeit in Nachſicht und Verzeihung.
Hat man erſt dieſes einſehen gelernt, ſo kann man nicht laͤnger Anſtand nehmen, Liebe fuͤr einen wenigſtens eben ſo erhabenen Vorzug zu halten als Macht, und dem allerhoͤchſten We- ſen, dem man Allmacht zuſchreibt, auch Allguͤ- tigkeit zuzutrauen; den Gott der Staͤrke auch fuͤr den Gott der Liebe zu erkennen. Aber wie
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neidet jeden um dem mindeſten Vorzug an
Macht, Reichtum, Schoͤnheit, Ehre u. ſ. w.,
nur nicht um den Vorzug an Guͤtigkeit. Und
wie kann er auch dieſes, da es doch groͤßten-
theils nur von ihm ſelbſt abhaͤngt, den Grad
von Sanftmuth zu erlangen, den er beneidens-
werth findet? Es gehoͤrt Nachſinnen dazu,
wenn wir begreifen ſollen, daß Haß und Rach-
ſucht, Neid und Grauſamkeit, im Grunde
nichts anders als Schwachheit, lediglich Wir-
kungen der Furcht ſind. Furcht, mit zufaͤlliger,
unſicherer Ueberlegenheit verbunden, iſt die Mut-
ter aller dieſer barbariſchen Geſinnungen. Nur
die Furcht macht grauſam und unverſoͤhnlich.
Wer ſich ſeiner Ueberlegenheit mit Sicherheit
bewußt iſt, findet weit groͤßre Gluͤckſeligkeit in
Nachſicht und Verzeihung.
Hat man erſt dieſes einſehen gelernt, ſo
kann man nicht laͤnger Anſtand nehmen, Liebe
fuͤr einen wenigſtens eben ſo erhabenen Vorzug
zu halten als Macht, und dem allerhoͤchſten We-
ſen, dem man Allmacht zuſchreibt, auch Allguͤ-
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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/202>, abgerufen am 16.02.2025.
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