Gottheit, die in den Volksreligionen sich noch erhielten, waren von Aberglauben so entstellt, von Heucheley und Pfaffenlist so verderbt, daß man mit Grunde zweifein konnte: ob nicht Ohn- götterey der menschlichen Glückseligkeit weniger schädlich, ob so zu sagen, die Gottlosigkeit selbst nicht weniger gottlos sey, als eine solche Reli- gion. Menschen, Thiere, Pflanzen, die scheuß- lichsten und verächtlichsten Dinge in der Natur wurden angebetet und als Gottheiten verehrt; oder vielmehr als Gottheiten gefürchtet. Denn von der Gottheit hatten die öffentlichen Volks- religionen der damaligen Zeiten keinen andern Begriff, als von einem furchtbaren Wesen, das uns Erdbewohnern an Macht überlegen, leicht zum Zorne zu reitzen, und schwer zu versöhnen ist. Zur Schmach des menschlichen Verstandes und Herzens wußte der Aberglaube die unver- träglichsten Begriffe mit einander zu verbinden, Menschenopfer und Thierdienst neben einander gelten zu lassen. In dem prächtigsten, nach allen Regeln der Kunst erbaueten und ausgezierten Tempeln, sahe man, wie Plutarch sich ausdrückt, zur Schande der Vernunft, sich nach der Gott-
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Gottheit, die in den Volksreligionen ſich noch erhielten, waren von Aberglauben ſo entſtellt, von Heucheley und Pfaffenliſt ſo verderbt, daß man mit Grunde zweifein konnte: ob nicht Ohn- goͤtterey der menſchlichen Gluͤckſeligkeit weniger ſchaͤdlich, ob ſo zu ſagen, die Gottloſigkeit ſelbſt nicht weniger gottlos ſey, als eine ſolche Reli- gion. Menſchen, Thiere, Pflanzen, die ſcheuß- lichſten und veraͤchtlichſten Dinge in der Natur wurden angebetet und als Gottheiten verehrt; oder vielmehr als Gottheiten gefuͤrchtet. Denn von der Gottheit hatten die oͤffentlichen Volks- religionen der damaligen Zeiten keinen andern Begriff, als von einem furchtbaren Weſen, das uns Erdbewohnern an Macht uͤberlegen, leicht zum Zorne zu reitzen, und ſchwer zu verſoͤhnen iſt. Zur Schmach des menſchlichen Verſtandes und Herzens wußte der Aberglaube die unver- traͤglichſten Begriffe mit einander zu verbinden, Menſchenopfer und Thierdienſt neben einander gelten zu laſſen. In dem praͤchtigſten, nach allen Regeln der Kunſt erbaueten und ausgezierten Tempeln, ſahe man, wie Plutarch ſich ausdruͤckt, zur Schande der Vernunft, ſich nach der Gott-
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Gottheit, die in den Volksreligionen ſich noch
erhielten, waren von Aberglauben ſo entſtellt,
von Heucheley und Pfaffenliſt ſo verderbt, daß
man mit Grunde zweifein konnte: ob nicht Ohn-
goͤtterey der menſchlichen Gluͤckſeligkeit weniger
ſchaͤdlich, ob ſo zu ſagen, die Gottloſigkeit ſelbſt
nicht weniger gottlos ſey, als eine ſolche Reli-
gion. Menſchen, Thiere, Pflanzen, die ſcheuß-
lichſten und veraͤchtlichſten Dinge in der Natur
wurden angebetet und als Gottheiten verehrt;
oder vielmehr als Gottheiten gefuͤrchtet. Denn
von der Gottheit hatten die oͤffentlichen Volks-
religionen der damaligen Zeiten keinen andern
Begriff, als von einem furchtbaren Weſen, das
uns Erdbewohnern an Macht uͤberlegen, leicht
zum Zorne zu reitzen, und ſchwer zu verſoͤhnen
iſt. Zur Schmach des menſchlichen Verſtandes
und Herzens wußte der Aberglaube die unver-
traͤglichſten Begriffe mit einander zu verbinden,
Menſchenopfer und Thierdienſt neben einander
gelten zu laſſen. In dem praͤchtigſten, nach allen
Regeln der Kunſt erbaueten und ausgezierten
Tempeln, ſahe man, wie Plutarch ſich ausdruͤckt,
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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/191>, abgerufen am 16.07.2024.
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