Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

ner öffentlichen Versamlung sich eine muthwil-
lige Jugend über einen Alten lustig gemacht
hatte. Wir brauchen des erfahrnen Mannes
nicht, wir brauchen nur seine Schriften. Mit
einem Worte, wir sind litterati, Buchstaben-
menschen
. Vom Buchstaben hängt unser gan-
zes Wesen ab, und wir können kaum begreifen,
wie ein Erdensohn sich bilden, und vervollkomm-
nen kann, ohne Buch.

So war es nicht in den grauen Tagen der
Vorwelt. Kann man nun schon nicht sagen,
es war besser; so war es doch sicherlich anders.
Man schöpfte aus andern Quellen, sammlete
und erhielt in andern Gefäßen, und vereinzelte
das Aufbewahrte durch ganz andere Mittel.
Der Mensch war dem Menschen nothwendiger;
die Lehre war genauer mit dem Leben, Betrach-
tung inniger mit Handlung verbunden. Der
Unerfahrne mußte dem Erfahrnen, der Schüler
seinem Lehrer auf dem Fuße nachfolgen, seinen
Umgang suchen, ihn beobachten, und gleichsam
ausholen, wenn er seine Wißbegierde befriedi-
gen wollte. Um deutlicher zu zeigen, was die-
ser Umstand für Einfluß auf Religion und Sit-

ten

ner oͤffentlichen Verſamlung ſich eine muthwil-
lige Jugend uͤber einen Alten luſtig gemacht
hatte. Wir brauchen des erfahrnen Mannes
nicht, wir brauchen nur ſeine Schriften. Mit
einem Worte, wir ſind litterati, Buchſtaben-
menſchen
. Vom Buchſtaben haͤngt unſer gan-
zes Weſen ab, und wir koͤnnen kaum begreifen,
wie ein Erdenſohn ſich bilden, und vervollkomm-
nen kann, ohne Buch.

So war es nicht in den grauen Tagen der
Vorwelt. Kann man nun ſchon nicht ſagen,
es war beſſer; ſo war es doch ſicherlich anders.
Man ſchoͤpfte aus andern Quellen, ſammlete
und erhielt in andern Gefaͤßen, und vereinzelte
das Aufbewahrte durch ganz andere Mittel.
Der Menſch war dem Menſchen nothwendiger;
die Lehre war genauer mit dem Leben, Betrach-
tung inniger mit Handlung verbunden. Der
Unerfahrne mußte dem Erfahrnen, der Schuͤler
ſeinem Lehrer auf dem Fuße nachfolgen, ſeinen
Umgang ſuchen, ihn beobachten, und gleichſam
ausholen, wenn er ſeine Wißbegierde befriedi-
gen wollte. Um deutlicher zu zeigen, was die-
ſer Umſtand fuͤr Einfluß auf Religion und Sit-

ten
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0165" n="63"/>
ner o&#x0364;ffentlichen Ver&#x017F;amlung &#x017F;ich eine muthwil-<lb/>
lige Jugend u&#x0364;ber einen Alten lu&#x017F;tig gemacht<lb/>
hatte. Wir brauchen des erfahrnen Mannes<lb/>
nicht, wir brauchen nur &#x017F;eine Schriften. Mit<lb/>
einem Worte, wir &#x017F;ind <hi rendition="#aq">litterati,</hi> <hi rendition="#fr">Buch&#x017F;taben-<lb/>
men&#x017F;chen</hi>. Vom Buch&#x017F;taben ha&#x0364;ngt un&#x017F;er gan-<lb/>
zes We&#x017F;en ab, und wir ko&#x0364;nnen kaum begreifen,<lb/>
wie ein Erden&#x017F;ohn &#x017F;ich bilden, und vervollkomm-<lb/>
nen kann, ohne <hi rendition="#fr">Buch</hi>.</p><lb/>
        <p>So war es nicht in den grauen Tagen der<lb/>
Vorwelt. Kann man nun &#x017F;chon nicht &#x017F;agen,<lb/>
es war be&#x017F;&#x017F;er; &#x017F;o war es doch &#x017F;icherlich anders.<lb/>
Man &#x017F;cho&#x0364;pfte aus andern Quellen, &#x017F;ammlete<lb/>
und erhielt in andern Gefa&#x0364;ßen, und vereinzelte<lb/>
das Aufbewahrte durch ganz andere Mittel.<lb/>
Der Men&#x017F;ch war dem Men&#x017F;chen nothwendiger;<lb/>
die Lehre war genauer mit dem Leben, Betrach-<lb/>
tung inniger mit Handlung verbunden. Der<lb/>
Unerfahrne mußte dem Erfahrnen, der Schu&#x0364;ler<lb/>
&#x017F;einem Lehrer auf dem Fuße nachfolgen, &#x017F;einen<lb/>
Umgang &#x017F;uchen, ihn beobachten, und gleich&#x017F;am<lb/>
ausholen, wenn er &#x017F;eine Wißbegierde befriedi-<lb/>
gen wollte. Um deutlicher zu zeigen, was die-<lb/>
&#x017F;er Um&#x017F;tand fu&#x0364;r Einfluß auf Religion und Sit-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ten</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[63/0165] ner oͤffentlichen Verſamlung ſich eine muthwil- lige Jugend uͤber einen Alten luſtig gemacht hatte. Wir brauchen des erfahrnen Mannes nicht, wir brauchen nur ſeine Schriften. Mit einem Worte, wir ſind litterati, Buchſtaben- menſchen. Vom Buchſtaben haͤngt unſer gan- zes Weſen ab, und wir koͤnnen kaum begreifen, wie ein Erdenſohn ſich bilden, und vervollkomm- nen kann, ohne Buch. So war es nicht in den grauen Tagen der Vorwelt. Kann man nun ſchon nicht ſagen, es war beſſer; ſo war es doch ſicherlich anders. Man ſchoͤpfte aus andern Quellen, ſammlete und erhielt in andern Gefaͤßen, und vereinzelte das Aufbewahrte durch ganz andere Mittel. Der Menſch war dem Menſchen nothwendiger; die Lehre war genauer mit dem Leben, Betrach- tung inniger mit Handlung verbunden. Der Unerfahrne mußte dem Erfahrnen, der Schuͤler ſeinem Lehrer auf dem Fuße nachfolgen, ſeinen Umgang ſuchen, ihn beobachten, und gleichſam ausholen, wenn er ſeine Wißbegierde befriedi- gen wollte. Um deutlicher zu zeigen, was die- ſer Umſtand fuͤr Einfluß auf Religion und Sit- ten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/165
Zitationshilfe: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/165>, abgerufen am 22.11.2024.