unterscheiden gelernt, und diese Unterscheidungen so innigst mit der Sprache verbunden, daß nun- mehr die Widerlegung des hobbesischen Systems schon in dem gesunden Menschverstande, und so zu sagen, in der Sprache zu liegen scheinet. Dieses ist die Eigenschaft aller sittlichen Wahr- heiten. Sobald sie ins Licht gesetzt sind, ver- einigen sie sich so sehr mit der Sprache des Um- gangs und verbinden sich mit den alltäglichen Begriffen der Menschen, daß sie dem gemeinen Menschenverstande einleuchten, und nunmehr wundern wir uns, wie man vormals auf einem so ebnen Wege habe straucheln können. Wir bedenken aber den Aufwand nicht, den es ge- kostet, diesen Steig durch die Wildniß so zu ebnen.
Hobbes selbst mußte die unstatthaften Fol- gen auf mehr als eine Weise empfinden, zu welchen seine übertriebenen Sätze unmittelbar führen. Sind die Menschen von Natur an keine Pflicht gebunden, so liegt ihnen auch nicht einmal die Pflicht ob, ihre Verträge zu halten. Findet im Stande der Natur keine andre Ver- bindlichkeit Statt, als die sich auf Furcht und Ohnmacht gründet; so dauert die Gültigkeit der
Ver-
unterſcheiden gelernt, und dieſe Unterſcheidungen ſo innigſt mit der Sprache verbunden, daß nun- mehr die Widerlegung des hobbeſiſchen Syſtems ſchon in dem geſunden Menſchverſtande, und ſo zu ſagen, in der Sprache zu liegen ſcheinet. Dieſes iſt die Eigenſchaft aller ſittlichen Wahr- heiten. Sobald ſie ins Licht geſetzt ſind, ver- einigen ſie ſich ſo ſehr mit der Sprache des Um- gangs und verbinden ſich mit den alltaͤglichen Begriffen der Menſchen, daß ſie dem gemeinen Menſchenverſtande einleuchten, und nunmehr wundern wir uns, wie man vormals auf einem ſo ebnen Wege habe ſtraucheln koͤnnen. Wir bedenken aber den Aufwand nicht, den es ge- koſtet, dieſen Steig durch die Wildniß ſo zu ebnen.
Hobbes ſelbſt mußte die unſtatthaften Fol- gen auf mehr als eine Weiſe empfinden, zu welchen ſeine uͤbertriebenen Saͤtze unmittelbar fuͤhren. Sind die Menſchen von Natur an keine Pflicht gebunden, ſo liegt ihnen auch nicht einmal die Pflicht ob, ihre Vertraͤge zu halten. Findet im Stande der Natur keine andre Ver- bindlichkeit Statt, als die ſich auf Furcht und Ohnmacht gruͤndet; ſo dauert die Guͤltigkeit der
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[10/0016]
unterſcheiden gelernt, und dieſe Unterſcheidungen
ſo innigſt mit der Sprache verbunden, daß nun-
mehr die Widerlegung des hobbeſiſchen Syſtems
ſchon in dem geſunden Menſchverſtande, und
ſo zu ſagen, in der Sprache zu liegen ſcheinet.
Dieſes iſt die Eigenſchaft aller ſittlichen Wahr-
heiten. Sobald ſie ins Licht geſetzt ſind, ver-
einigen ſie ſich ſo ſehr mit der Sprache des Um-
gangs und verbinden ſich mit den alltaͤglichen
Begriffen der Menſchen, daß ſie dem gemeinen
Menſchenverſtande einleuchten, und nunmehr
wundern wir uns, wie man vormals auf einem
ſo ebnen Wege habe ſtraucheln koͤnnen. Wir
bedenken aber den Aufwand nicht, den es ge-
koſtet, dieſen Steig durch die Wildniß ſo
zu ebnen.
Hobbes ſelbſt mußte die unſtatthaften Fol-
gen auf mehr als eine Weiſe empfinden, zu
welchen ſeine uͤbertriebenen Saͤtze unmittelbar
fuͤhren. Sind die Menſchen von Natur an
keine Pflicht gebunden, ſo liegt ihnen auch nicht
einmal die Pflicht ob, ihre Vertraͤge zu halten.
Findet im Stande der Natur keine andre Ver-
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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/16>, abgerufen am 16.07.2024.
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