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Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796.

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der predigte, das wäre noch eine streitige Fra-
ge. Doch daß er ächte Gottesfurcht mit eben
so ächter Menschenliebe, tiefe Herzenskentnis
mit leichtem faßlichen Vortrag vereint; daß er
im ganzen Kirchspiel der Tröster aller Unglück-
lichen, der Rathgeber aller Bedrängten sei; daß
er sein Amt nie zum Fluch, und desto öfterer
zum Segen anwende; darüber gab es in seiner
Gemeinde nur eine Stimme. Schon zweimal
hatt' er seine kärgliche Stelle mit einer ein-
träglichern vertauschen können. Die laute
Wehklage seiner Kirchkinder hatt' ihn beidemal
zur Aufopferung seines eignen Nuzzens bewo-
gen. Selbst nur auf Tage trente er sich un-
gern von seiner großen Familie, wie er
sich auszudrücken pflegte. Jahre vergingen und
er kam nicht ins nächste Städtgen. Doch da
er seinen Schwager liebte; da er kurz hinter-
einander drei jammernde Briefe von seiner
Schwester erhielt, so macht' er sich jezt auf den
Weg, um da den Seelen-Arzt zu versuchen,

K k 4

der predigte, das waͤre noch eine ſtreitige Fra-
ge. Doch daß er aͤchte Gottesfurcht mit eben
ſo aͤchter Menſchenliebe, tiefe Herzenskentnis
mit leichtem faßlichen Vortrag vereint; daß er
im ganzen Kirchſpiel der Troͤſter aller Ungluͤck-
lichen, der Rathgeber aller Bedraͤngten ſei; daß
er ſein Amt nie zum Fluch, und deſto oͤfterer
zum Segen anwende; daruͤber gab es in ſeiner
Gemeinde nur eine Stimme. Schon zweimal
hatt' er ſeine kaͤrgliche Stelle mit einer ein-
traͤglichern vertauſchen koͤnnen. Die laute
Wehklage ſeiner Kirchkinder hatt' ihn beidemal
zur Aufopferung ſeines eignen Nuzzens bewo-
gen. Selbſt nur auf Tage trente er ſich un-
gern von ſeiner großen Familie, wie er
ſich auszudruͤcken pflegte. Jahre vergingen und
er kam nicht ins naͤchſte Staͤdtgen. Doch da
er ſeinen Schwager liebte; da er kurz hinter-
einander drei jammernde Briefe von ſeiner
Schweſter erhielt, ſo macht' er ſich jezt auf den
Weg, um da den Seelen-Arzt zu verſuchen,

K k 4
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[519/0527] der predigte, das waͤre noch eine ſtreitige Fra- ge. Doch daß er aͤchte Gottesfurcht mit eben ſo aͤchter Menſchenliebe, tiefe Herzenskentnis mit leichtem faßlichen Vortrag vereint; daß er im ganzen Kirchſpiel der Troͤſter aller Ungluͤck- lichen, der Rathgeber aller Bedraͤngten ſei; daß er ſein Amt nie zum Fluch, und deſto oͤfterer zum Segen anwende; daruͤber gab es in ſeiner Gemeinde nur eine Stimme. Schon zweimal hatt' er ſeine kaͤrgliche Stelle mit einer ein- traͤglichern vertauſchen koͤnnen. Die laute Wehklage ſeiner Kirchkinder hatt' ihn beidemal zur Aufopferung ſeines eignen Nuzzens bewo- gen. Selbſt nur auf Tage trente er ſich un- gern von ſeiner großen Familie, wie er ſich auszudruͤcken pflegte. Jahre vergingen und er kam nicht ins naͤchſte Staͤdtgen. Doch da er ſeinen Schwager liebte; da er kurz hinter- einander drei jammernde Briefe von ſeiner Schweſter erhielt, ſo macht' er ſich jezt auf den Weg, um da den Seelen-Arzt zu verſuchen, K k 4

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Zitationshilfe: Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796, S. 519. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_krimi_1796/527>, abgerufen am 23.11.2024.