Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite
IX.

Ein Kaufmann zu London hegte gegen einen
seiner Nachbarn einen so bittern, unbeschränk-
ten Haß, daß er endlich unter mancherlei, seine
Bosheit und Grausamkeit noch erschwerenden
Umständen, einen Meuchelmord an ihm beging.
Da er nun, wie sehr natürlich, vor Untersu-
chung der Gerechtigkeit sich scheute, so entfloh
er nach Frankreich und lebte alda verschiedne
Jahre. Seine Einkünfte waren beträchtlich;
häusliches Bedürfnis drängte ihn keineswegs;
aber die Stimmung seiner Seele war äußerst
traurig. Tag und Nacht stand der Schatten
des Ermordeten vor seinen Augen. Um diesem
Schreckbild zu entgehen, durchreiste er Teutsch-
land und Jtalien. Doch seine Reisen nüzten
ihn nichts. Jener Schatten begleitete ihn
über die Alpen und über den Rhein.

Nach zwanzig Jahren eines unstäten, kum-
mervollen Lebens entschloß sich der Unglück-
liche nach England zurück zu kehren. Hier

IX.

Ein Kaufmann zu London hegte gegen einen
ſeiner Nachbarn einen ſo bittern, unbeſchraͤnk-
ten Haß, daß er endlich unter mancherlei, ſeine
Bosheit und Grauſamkeit noch erſchwerenden
Umſtaͤnden, einen Meuchelmord an ihm beging.
Da er nun, wie ſehr natuͤrlich, vor Unterſu-
chung der Gerechtigkeit ſich ſcheute, ſo entfloh
er nach Frankreich und lebte alda verſchiedne
Jahre. Seine Einkuͤnfte waren betraͤchtlich;
haͤusliches Beduͤrfnis draͤngte ihn keineswegs;
aber die Stimmung ſeiner Seele war aͤußerſt
traurig. Tag und Nacht ſtand der Schatten
des Ermordeten vor ſeinen Augen. Um dieſem
Schreckbild zu entgehen, durchreiſte er Teutſch-
land und Jtalien. Doch ſeine Reiſen nuͤzten
ihn nichts. Jener Schatten begleitete ihn
uͤber die Alpen und uͤber den Rhein.

Nach zwanzig Jahren eines unſtaͤten, kum-
mervollen Lebens entſchloß ſich der Ungluͤck-
liche nach England zuruͤck zu kehren. Hier

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0394" n="386"/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#aq">IX</hi>.</head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">E</hi>in Kaufmann zu London hegte gegen einen<lb/>
&#x017F;einer Nachbarn einen &#x017F;o bittern, unbe&#x017F;chra&#x0364;nk-<lb/>
ten Haß, daß er endlich unter mancherlei, &#x017F;eine<lb/>
Bosheit und Grau&#x017F;amkeit noch er&#x017F;chwerenden<lb/>
Um&#x017F;ta&#x0364;nden, einen Meuchelmord an ihm beging.<lb/>
Da er nun, wie &#x017F;ehr natu&#x0364;rlich, vor Unter&#x017F;u-<lb/>
chung der Gerechtigkeit &#x017F;ich &#x017F;cheute, &#x017F;o entfloh<lb/>
er nach Frankreich und lebte alda ver&#x017F;chiedne<lb/>
Jahre. Seine Einku&#x0364;nfte waren betra&#x0364;chtlich;<lb/>
ha&#x0364;usliches Bedu&#x0364;rfnis dra&#x0364;ngte ihn keineswegs;<lb/>
aber die Stimmung &#x017F;einer Seele war a&#x0364;ußer&#x017F;t<lb/>
traurig. Tag und Nacht &#x017F;tand der Schatten<lb/>
des Ermordeten vor &#x017F;einen Augen. Um die&#x017F;em<lb/>
Schreckbild zu entgehen, durchrei&#x017F;te er Teut&#x017F;ch-<lb/>
land und Jtalien. Doch &#x017F;eine Rei&#x017F;en nu&#x0364;zten<lb/>
ihn nichts. Jener Schatten begleitete ihn<lb/>
u&#x0364;ber die Alpen und u&#x0364;ber den Rhein.</p><lb/>
          <p>Nach zwanzig Jahren eines un&#x017F;ta&#x0364;ten, kum-<lb/>
mervollen Lebens ent&#x017F;chloß &#x017F;ich der Unglu&#x0364;ck-<lb/>
liche nach England zuru&#x0364;ck zu kehren. Hier<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[386/0394] IX. Ein Kaufmann zu London hegte gegen einen ſeiner Nachbarn einen ſo bittern, unbeſchraͤnk- ten Haß, daß er endlich unter mancherlei, ſeine Bosheit und Grauſamkeit noch erſchwerenden Umſtaͤnden, einen Meuchelmord an ihm beging. Da er nun, wie ſehr natuͤrlich, vor Unterſu- chung der Gerechtigkeit ſich ſcheute, ſo entfloh er nach Frankreich und lebte alda verſchiedne Jahre. Seine Einkuͤnfte waren betraͤchtlich; haͤusliches Beduͤrfnis draͤngte ihn keineswegs; aber die Stimmung ſeiner Seele war aͤußerſt traurig. Tag und Nacht ſtand der Schatten des Ermordeten vor ſeinen Augen. Um dieſem Schreckbild zu entgehen, durchreiſte er Teutſch- land und Jtalien. Doch ſeine Reiſen nuͤzten ihn nichts. Jener Schatten begleitete ihn uͤber die Alpen und uͤber den Rhein. Nach zwanzig Jahren eines unſtaͤten, kum- mervollen Lebens entſchloß ſich der Ungluͤck- liche nach England zuruͤck zu kehren. Hier

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_krimi_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_krimi_1796/394
Zitationshilfe: Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_krimi_1796/394>, abgerufen am 17.05.2024.