Viel Zeit ging über dieser Ungewisheit verloren. Daß der Mörder indeß einen gro- ßen Vorsprung gewonnen, glaubten alle; daß man ihm doch irgendwo auf die Spur kommen werde, hofte man ebenfalls. Ver- gebens! Keine Verwendung an Obrigkeiten, keine Beschreibung in öffentlichen Blättern, auch keine im Entdeckungsfall versprochne Be- lohnung fruchteten. Auf ein bloßes Gerücht, daß er seinen Weg nach Schafhausen zu ge- nommen, blieb fast kein Winkel der Schweiz undurchspäht; sogar in einem von Graubün- dens rauhsten Thälern glaubte man in der Klause eines Waldbruders ihn zu entdecken, und -- irrte sich. Fünf Jahre verflossen. R's Name und Frevelthat kam endlich ganz in Ver- gessenheit. Wenn man ja noch zuweilen von ihm sprach, geschah es mit dem Beisaz: daß er nach West- oder Ostindien gegangen seyn müsse. Manche Menschen, die über alles ge- nauere Nachricht zu haben pflegen, versicher- ten: daß man ihn zu Batavia gesehen habe.
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Viel Zeit ging uͤber dieſer Ungewisheit verloren. Daß der Moͤrder indeß einen gro- ßen Vorſprung gewonnen, glaubten alle; daß man ihm doch irgendwo auf die Spur kommen werde, hofte man ebenfalls. Ver- gebens! Keine Verwendung an Obrigkeiten, keine Beſchreibung in oͤffentlichen Blaͤttern, auch keine im Entdeckungsfall verſprochne Be- lohnung fruchteten. Auf ein bloßes Geruͤcht, daß er ſeinen Weg nach Schafhauſen zu ge- nommen, blieb faſt kein Winkel der Schweiz undurchſpaͤht; ſogar in einem von Graubuͤn- dens rauhſten Thaͤlern glaubte man in der Klauſe eines Waldbruders ihn zu entdecken, und — irrte ſich. Fuͤnf Jahre verfloſſen. R's Name und Frevelthat kam endlich ganz in Ver- geſſenheit. Wenn man ja noch zuweilen von ihm ſprach, geſchah es mit dem Beiſaz: daß er nach Weſt- oder Oſtindien gegangen ſeyn muͤſſe. Manche Menſchen, die uͤber alles ge- nauere Nachricht zu haben pflegen, verſicher- ten: daß man ihn zu Batavia geſehen habe.
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Viel Zeit ging uͤber dieſer Ungewisheit
verloren. Daß der Moͤrder indeß einen gro-
ßen Vorſprung gewonnen, glaubten alle;
daß man ihm doch irgendwo auf die Spur
kommen werde, hofte man ebenfalls. Ver-
gebens! Keine Verwendung an Obrigkeiten,
keine Beſchreibung in oͤffentlichen Blaͤttern,
auch keine im Entdeckungsfall verſprochne Be-
lohnung fruchteten. Auf ein bloßes Geruͤcht,
daß er ſeinen Weg nach Schafhauſen zu ge-
nommen, blieb faſt kein Winkel der Schweiz
undurchſpaͤht; ſogar in einem von Graubuͤn-
dens rauhſten Thaͤlern glaubte man in der
Klauſe eines Waldbruders ihn zu entdecken,
und — irrte ſich. Fuͤnf Jahre verfloſſen. R's
Name und Frevelthat kam endlich ganz in Ver-
geſſenheit. Wenn man ja noch zuweilen von
ihm ſprach, geſchah es mit dem Beiſaz: daß
er nach Weſt- oder Oſtindien gegangen ſeyn
muͤſſe. Manche Menſchen, die uͤber alles ge-
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Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_krimi_1796/285>, abgerufen am 12.05.2024.
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