den, hub ich an, sie zu examiniren, warumb sie fort wölle, da sie doch so lange bei mir verharret, auch in der gro¬ ßen Hungersnoth uns nicht verlassen wöllen, besondern getreulich ausgehalten, ja mich selbsten mit ihrem Glau¬ ben gedemüthiget und ritterlich auszuhalten vermahnet, was ich ihr nie vergessen würd, so lange ich lebte. Hier¬ auf finge sie an nur noch heftiger zu weinen und zu schluchzen und brachte endlich herfür: daß sie annoch eine alte Mutter bei 80 Jahren in der Liepen wohnende hätte, und wölle sie hin, selbige bis an ihr Ende zu pflegen. Worauf mein Töchterlein aufsprunge und weinend zur Antwort gab: "ach alte Ilse darumb willtu wegk, denn dein Mütterlein ist ja bei deinen Bruder; sage mir doch, warumb du mich verlassen wilt, und was ich gegen dich verwirket, damit ich es wieder gut machen kann?" Aber sie verbarg ihr Gesicht in der Schürzen und schluchzete nur ohne ein Wörtlein herfürzubringen, wannenhero mein Töchterlein ihr die Schürzen wegkziehen, und ihr die Wan¬ gen streicheln wollte, umb sie zum Reden zu bringen. Aber als sie solliches merkete, schlug sie mein arm Kind auf die Finger und rief: pfui! spiee auch vor ihr aus und ging alsobald aus der Thüren. Solliches hatte sie nie nit gethan, da mein Töchterlein ein klein Mädken war, und entsatzten wir beide uns also, daß wir kein Wörtlein sprechen kunnten.
Währete aber nit lange; so erhob mein arm Kind ein groß Geschrei, und worf sich über die Bank und la¬ mentirete immerdar rufend: "was ist geschehn, was ist
den, hub ich an, ſie zu examiniren, warumb ſie fort wölle, da ſie doch ſo lange bei mir verharret, auch in der gro¬ ßen Hungersnoth uns nicht verlaſſen wöllen, beſondern getreulich ausgehalten, ja mich ſelbſten mit ihrem Glau¬ ben gedemüthiget und ritterlich auszuhalten vermahnet, was ich ihr nie vergeſſen würd, ſo lange ich lebte. Hier¬ auf finge ſie an nur noch heftiger zu weinen und zu ſchluchzen und brachte endlich herfür: daß ſie annoch eine alte Mutter bei 80 Jahren in der Liepen wohnende hätte, und wölle ſie hin, ſelbige bis an ihr Ende zu pflegen. Worauf mein Töchterlein aufſprunge und weinend zur Antwort gab: „ach alte Ilſe darumb willtu wegk, denn dein Mütterlein iſt ja bei deinen Bruder; ſage mir doch, warumb du mich verlaſſen wilt, und was ich gegen dich verwirket, damit ich es wieder gut machen kann?“ Aber ſie verbarg ihr Geſicht in der Schürzen und ſchluchzete nur ohne ein Wörtlein herfürzubringen, wannenhero mein Töchterlein ihr die Schürzen wegkziehen, und ihr die Wan¬ gen ſtreicheln wollte, umb ſie zum Reden zu bringen. Aber als ſie ſolliches merkete, ſchlug ſie mein arm Kind auf die Finger und rief: pfui! ſpiee auch vor ihr aus und ging alſobald aus der Thüren. Solliches hatte ſie nie nit gethan, da mein Töchterlein ein klein Mädken war, und entſatzten wir beide uns alſo, daß wir kein Wörtlein ſprechen kunnten.
Währete aber nit lange; ſo erhob mein arm Kind ein groß Geſchrei, und worf ſich über die Bank und la¬ mentirete immerdar rufend: „was iſt geſchehn, was iſt
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den, hub ich an, ſie zu examiniren, warumb ſie fort wölle,
da ſie doch ſo lange bei mir verharret, auch in der gro¬
ßen Hungersnoth uns nicht verlaſſen wöllen, beſondern
getreulich ausgehalten, ja mich ſelbſten mit ihrem Glau¬
ben gedemüthiget und ritterlich auszuhalten vermahnet,
was ich ihr nie vergeſſen würd, ſo lange ich lebte. Hier¬
auf finge ſie an nur noch heftiger zu weinen und zu
ſchluchzen und brachte endlich herfür: daß ſie annoch eine
alte Mutter bei 80 Jahren in der Liepen wohnende hätte,
und wölle ſie hin, ſelbige bis an ihr Ende zu pflegen.
Worauf mein Töchterlein aufſprunge und weinend zur
Antwort gab: „ach alte Ilſe darumb willtu wegk, denn
dein Mütterlein iſt ja bei deinen Bruder; ſage mir doch,
warumb du mich verlaſſen wilt, und was ich gegen dich
verwirket, damit ich es wieder gut machen kann?“ Aber
ſie verbarg ihr Geſicht in der Schürzen und ſchluchzete
nur ohne ein Wörtlein herfürzubringen, wannenhero mein
Töchterlein ihr die Schürzen wegkziehen, und ihr die Wan¬
gen ſtreicheln wollte, umb ſie zum Reden zu bringen.
Aber als ſie ſolliches merkete, ſchlug ſie mein arm Kind
auf die Finger und rief: pfui! ſpiee auch vor ihr aus
und ging alſobald aus der Thüren. Solliches hatte ſie
nie nit gethan, da mein Töchterlein ein klein Mädken
war, und entſatzten wir beide uns alſo, daß wir kein
Wörtlein ſprechen kunnten.
Währete aber nit lange; ſo erhob mein arm Kind
ein groß Geſchrei, und worf ſich über die Bank und la¬
mentirete immerdar rufend: „was iſt geſchehn, was iſt
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Meinhold, Wilhelm: Maria Schweidler die Bernsteinhexe. Berlin, 1843, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meinhold_bernsteinhexe_1843/139>, abgerufen am 23.11.2024.
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