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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 2. Leipzig, 1896.

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gebildet, wie die einheitliche öffentliche Gewalt als geteilt sich dar-
stellen kann. Es ist eine seiner bedeutsamsten und fruchtbarsten
Ideen, von welcher unser ganzes Verfassungswesen lebt. Sie hat uns
auch den Ausgangspunkt unseres Verwaltungsrechts gegeben. Es ist
die Trennung der Gewalten. Die öffentliche Gewalt erscheint
verfassungsmäßig durch das Mittel verschieden gearteter Wirkungs-
kräfte, Gewalten, die durch gesonderte, aber unter einander auch
wieder verbundene Willensträger in Bewegung gesetzt werden (Bd. I
§ 6). Es ist naheliegend, daß die nämliche Idee, welche die Ver-
fassung der Einzelstaaten beherrscht, auch in der Verfassung des
Staates, der sie alle zusammenfaßt, nochmals zur Geltung kommen
mußte. Das Wesen des Bundesstaates beruht auf einer solchen
Trennung der Gewalten. Wer für diese Idee unzugänglich ist bei
der Auffassung der Einzelstaatsgewalt, der kann natürlich auch dem
Wesen des Bundesstaates nicht gerecht werden18.

Das deutsche Staatswesen als Bundesstaat hat demnach folgende
Gestalt.

Für jedes zugehörige Gebiet besteht nur eine volle Staats-
gewalt. Diese Staatsgewalt erscheint aber gesondert in Reichsgewalt
und Gliedstaatsgewalt. Beide sind gleicher Natur als Staatsgewalt,
wie die gesetzgebende und vollziehende Gewalt im Einzelstaat. Jede
ist ihrerseits wieder in gesetzgebende und vollziehende Gewalt ge-
schieden. Die letztere Ausscheidung wird durch die Reichsverfassung

18 Die Lehre, daß das Wesen des Bundesstaates auf einer Teilung der
Souveränetät beruhe, ist in die deutsche Rechtswissenschaft eingeführt worden
durch Waitz. Dieser hat sie seinerseits von Toqueville übernommen, dessen
Doktrin er in "präciser Ausprägung und allgemeinerer Fassung" wiedergab. Dar-
über ausführlich Brie, Der Bundesstaat S. 92 ff. Toqueville, democratie en
Amerique I S. 190, beginnt seine Darstellung der Nordamerikanischen Bundes-
verfassung mit der Überschrift: Division des pouvoirs entre la souverainete federale
et celle des Etats, zeichnet kurz nach staatmännischen Gesichtspunkten die daraus
sich ergebende thatsächliche Machtstellung des Bundes, um dann des breiteren
die Verfassung der Bundesgewalt, die pouvoirs federaux, zu behandeln, die ihrer-
seits wieder pouvoir legislatif und pouvoir executif sind. Den geistreichen Aka-
demiker darf man aber nicht behandeln wie einen Pandektisten. Eine Bestimmung
des Bundesstaatsbegriffs hat er nicht anders gegeben als durch die Verweisung auf
"den ihm geläufigen Begriff einer Teilung der Gewalten" (Brie a. a. O. S. 103).
Will man eine juristische Formulierung daraus ziehen, so muß man damit be-
ginnen, festzustellen, was im lebendigen französischen Verfassungsrecht die Teilung
der Gewalten bedeutet. Das hat man nicht gethan, sondern sich hier, wie in
dieser ganzen Lehre überhaupt, an die Ausdrücke gehalten. Dadurch ist für den
Einzelstaat entstanden, was wir oben Bd. I S. 68 Note 2 einen Popanz nannten,
und für den Bundesstaat, was Laband, St.R. I S. 59, eine Chimäre nennt.

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gebildet, wie die einheitliche öffentliche Gewalt als geteilt sich dar-
stellen kann. Es ist eine seiner bedeutsamsten und fruchtbarsten
Ideen, von welcher unser ganzes Verfassungswesen lebt. Sie hat uns
auch den Ausgangspunkt unseres Verwaltungsrechts gegeben. Es ist
die Trennung der Gewalten. Die öffentliche Gewalt erscheint
verfassungsmäßig durch das Mittel verschieden gearteter Wirkungs-
kräfte, Gewalten, die durch gesonderte, aber unter einander auch
wieder verbundene Willensträger in Bewegung gesetzt werden (Bd. I
§ 6). Es ist naheliegend, daß die nämliche Idee, welche die Ver-
fassung der Einzelstaaten beherrscht, auch in der Verfassung des
Staates, der sie alle zusammenfaßt, nochmals zur Geltung kommen
mußte. Das Wesen des Bundesstaates beruht auf einer solchen
Trennung der Gewalten. Wer für diese Idee unzugänglich ist bei
der Auffassung der Einzelstaatsgewalt, der kann natürlich auch dem
Wesen des Bundesstaates nicht gerecht werden18.

Das deutsche Staatswesen als Bundesstaat hat demnach folgende
Gestalt.

Für jedes zugehörige Gebiet besteht nur eine volle Staats-
gewalt. Diese Staatsgewalt erscheint aber gesondert in Reichsgewalt
und Gliedstaatsgewalt. Beide sind gleicher Natur als Staatsgewalt,
wie die gesetzgebende und vollziehende Gewalt im Einzelstaat. Jede
ist ihrerseits wieder in gesetzgebende und vollziehende Gewalt ge-
schieden. Die letztere Ausscheidung wird durch die Reichsverfassung

18 Die Lehre, daß das Wesen des Bundesstaates auf einer Teilung der
Souveränetät beruhe, ist in die deutsche Rechtswissenschaft eingeführt worden
durch Waitz. Dieser hat sie seinerseits von Toqueville übernommen, dessen
Doktrin er in „präciser Ausprägung und allgemeinerer Fassung“ wiedergab. Dar-
über ausführlich Brie, Der Bundesstaat S. 92 ff. Toqueville, démocratie en
Amérique I S. 190, beginnt seine Darstellung der Nordamerikanischen Bundes-
verfassung mit der Überschrift: Division des pouvoirs entre la souveraineté fédérale
et celle des États, zeichnet kurz nach staatmännischen Gesichtspunkten die daraus
sich ergebende thatsächliche Machtstellung des Bundes, um dann des breiteren
die Verfassung der Bundesgewalt, die pouvoirs fédéraux, zu behandeln, die ihrer-
seits wieder pouvoir législatif und pouvoir exécutif sind. Den geistreichen Aka-
demiker darf man aber nicht behandeln wie einen Pandektisten. Eine Bestimmung
des Bundesstaatsbegriffs hat er nicht anders gegeben als durch die Verweisung auf
„den ihm geläufigen Begriff einer Teilung der Gewalten“ (Brie a. a. O. S. 103).
Will man eine juristische Formulierung daraus ziehen, so muß man damit be-
ginnen, festzustellen, was im lebendigen französischen Verfassungsrecht die Teilung
der Gewalten bedeutet. Das hat man nicht gethan, sondern sich hier, wie in
dieser ganzen Lehre überhaupt, an die Ausdrücke gehalten. Dadurch ist für den
Einzelstaat entstanden, was wir oben Bd. I S. 68 Note 2 einen Popanz nannten,
und für den Bundesstaat, was Laband, St.R. I S. 59, eine Chimäre nennt.
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[464/0476] Anhang. gebildet, wie die einheitliche öffentliche Gewalt als geteilt sich dar- stellen kann. Es ist eine seiner bedeutsamsten und fruchtbarsten Ideen, von welcher unser ganzes Verfassungswesen lebt. Sie hat uns auch den Ausgangspunkt unseres Verwaltungsrechts gegeben. Es ist die Trennung der Gewalten. Die öffentliche Gewalt erscheint verfassungsmäßig durch das Mittel verschieden gearteter Wirkungs- kräfte, Gewalten, die durch gesonderte, aber unter einander auch wieder verbundene Willensträger in Bewegung gesetzt werden (Bd. I § 6). Es ist naheliegend, daß die nämliche Idee, welche die Ver- fassung der Einzelstaaten beherrscht, auch in der Verfassung des Staates, der sie alle zusammenfaßt, nochmals zur Geltung kommen mußte. Das Wesen des Bundesstaates beruht auf einer solchen Trennung der Gewalten. Wer für diese Idee unzugänglich ist bei der Auffassung der Einzelstaatsgewalt, der kann natürlich auch dem Wesen des Bundesstaates nicht gerecht werden 18. Das deutsche Staatswesen als Bundesstaat hat demnach folgende Gestalt. Für jedes zugehörige Gebiet besteht nur eine volle Staats- gewalt. Diese Staatsgewalt erscheint aber gesondert in Reichsgewalt und Gliedstaatsgewalt. Beide sind gleicher Natur als Staatsgewalt, wie die gesetzgebende und vollziehende Gewalt im Einzelstaat. Jede ist ihrerseits wieder in gesetzgebende und vollziehende Gewalt ge- schieden. Die letztere Ausscheidung wird durch die Reichsverfassung 18 Die Lehre, daß das Wesen des Bundesstaates auf einer Teilung der Souveränetät beruhe, ist in die deutsche Rechtswissenschaft eingeführt worden durch Waitz. Dieser hat sie seinerseits von Toqueville übernommen, dessen Doktrin er in „präciser Ausprägung und allgemeinerer Fassung“ wiedergab. Dar- über ausführlich Brie, Der Bundesstaat S. 92 ff. Toqueville, démocratie en Amérique I S. 190, beginnt seine Darstellung der Nordamerikanischen Bundes- verfassung mit der Überschrift: Division des pouvoirs entre la souveraineté fédérale et celle des États, zeichnet kurz nach staatmännischen Gesichtspunkten die daraus sich ergebende thatsächliche Machtstellung des Bundes, um dann des breiteren die Verfassung der Bundesgewalt, die pouvoirs fédéraux, zu behandeln, die ihrer- seits wieder pouvoir législatif und pouvoir exécutif sind. Den geistreichen Aka- demiker darf man aber nicht behandeln wie einen Pandektisten. Eine Bestimmung des Bundesstaatsbegriffs hat er nicht anders gegeben als durch die Verweisung auf „den ihm geläufigen Begriff einer Teilung der Gewalten“ (Brie a. a. O. S. 103). Will man eine juristische Formulierung daraus ziehen, so muß man damit be- ginnen, festzustellen, was im lebendigen französischen Verfassungsrecht die Teilung der Gewalten bedeutet. Das hat man nicht gethan, sondern sich hier, wie in dieser ganzen Lehre überhaupt, an die Ausdrücke gehalten. Dadurch ist für den Einzelstaat entstanden, was wir oben Bd. I S. 68 Note 2 einen Popanz nannten, und für den Bundesstaat, was Laband, St.R. I S. 59, eine Chimäre nennt.

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 2. Leipzig, 1896, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht02_1896/476>, abgerufen am 07.05.2024.