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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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Geschichtliche Entwicklungsstufen.

Sobald man diesen Gedanken einmal angenommen hat, erkennt
man sofort, in wie grosser Mannigfaltigkeit solche Beschlüsse in mehr
oder minder formloser Gestalt durch die ganze Verwaltungsthätigkeit
sich hindurch ziehen, Verfügungen und Entscheidungen
aller Art,
die nun als gleichwertig anzusehen sind.

Neue Namen sind entstanden, um ihrer Eigentümlichkeit gerecht
zu werden, um anzudeuten, dass sie mehr sind wie die alten Befehle
des Polizeistaates. Sie geben dem Unterthanen nicht bloss kund, was
die Obrigkeit von ihm verlangt, sondern enthalten eine rechtliche
Bestimmung seines Verhältnisses, die dann von der Obrigkeit selbst
geachtet und durchgeführt werden soll, zu seinem Vorteil wie zu
seinem Nachteil. Man spricht von einer Verwaltungsjuris-
diktion
wegen der Ähnlichkeit mit dem Urteil, das jus in concreto
macht17, von öffentlichrechtlichem Rechtsgeschäfte und
von materieller Rechtskraft in der Verwaltung18; der Name
Verwaltungsakt wird aus der französischen Rechtssprache über-
nommen, um diese obrigkeitliche, rechtlich bedeutsame Bestimmung
des Einzelfalles zu bezeichnen, und die Verwaltungsakte selbst sucht
man wieder einzuteilen nach der Art der rechtlichen Bestimmung,
die sie dem Einzelnen geben19. --

Wir werden nicht in Zweifel sein können. Unser heutiges Recht
hat für die Verwaltung die Idee eines obrigkeitlichen Aktes aus-
gebildet, der dem früheren Rechte fremd war. Eines Aktes, der eine
gewisse Verwandtschaft hat mit dem Urteile in der Justiz, manchmal
dessen Gestalt vollständig annehmen kann, immer aber die rechtliche
Bestimmung des Einzelfalles bedeutet. Er ist es, der das Bild des

17 Der Ausdruck ist dem Englischen Recht entnommen, wo er die weite Be-
deutung der jurisdictio des kan. R. hat. Gneist will damit die "quasirichterliche
Stellung" der Verwaltungsbehörden bezeichnen (Verw., Just., Rechtsweg S. 167, 170;
vgl. auch Engl. V.R. I S. 388, 390, 394). Sehr gut v. Sarwey, Öff. R. u.
V.R.Pfl. S. 4: Verwaltungsjurisdiktion ist "jede mit zwingender Kraft erfolgende
Bestimmung menschlicher Lebensverhältnisse durch die Organe des Staates" ausser-
halb der Justiz. Ebenda S. 639 Note 1 und Allg. V.R. S. 45 ff.
18 Der Name Rechtsgeschäft zerreisst den Zusammenhang mit der Justiz,
um die Bedeutung des Aktes für die freie Bestimmung des Rechtsverhältnisses
desto mehr zu betonen (vgl. unten § 9 Note 14); umgekehrt wird die Ähnlichkeit
mit der Justiz durch die Verallgemeinerung des Ausdrucks Rechtskraft übertrieben;
Ulbrich, Östr. St.R. S. 438: "die materielle Rechtskraft einer Verwaltungs-
verfügung".
19 G. Meyer, V.R. I S. 32 ff.; ders. in Wörterbuch I S. 669 ff.;
Loening, V.R. S. 241 ff.; Rosin, Pol. Verord. S. 8; Laband, St.R. I S. 69;
Bernatzik, Rechtskraft S. 9 ff.; Ulbrich in Grünh. Ztschft. 9 S. 27 ff.
Geschichtliche Entwicklungsstufen.

Sobald man diesen Gedanken einmal angenommen hat, erkennt
man sofort, in wie groſser Mannigfaltigkeit solche Beschlüsse in mehr
oder minder formloser Gestalt durch die ganze Verwaltungsthätigkeit
sich hindurch ziehen, Verfügungen und Entscheidungen
aller Art,
die nun als gleichwertig anzusehen sind.

Neue Namen sind entstanden, um ihrer Eigentümlichkeit gerecht
zu werden, um anzudeuten, daſs sie mehr sind wie die alten Befehle
des Polizeistaates. Sie geben dem Unterthanen nicht bloſs kund, was
die Obrigkeit von ihm verlangt, sondern enthalten eine rechtliche
Bestimmung seines Verhältnisses, die dann von der Obrigkeit selbst
geachtet und durchgeführt werden soll, zu seinem Vorteil wie zu
seinem Nachteil. Man spricht von einer Verwaltungsjuris-
diktion
wegen der Ähnlichkeit mit dem Urteil, das jus in concreto
macht17, von öffentlichrechtlichem Rechtsgeschäfte und
von materieller Rechtskraft in der Verwaltung18; der Name
Verwaltungsakt wird aus der französischen Rechtssprache über-
nommen, um diese obrigkeitliche, rechtlich bedeutsame Bestimmung
des Einzelfalles zu bezeichnen, und die Verwaltungsakte selbst sucht
man wieder einzuteilen nach der Art der rechtlichen Bestimmung,
die sie dem Einzelnen geben19. —

Wir werden nicht in Zweifel sein können. Unser heutiges Recht
hat für die Verwaltung die Idee eines obrigkeitlichen Aktes aus-
gebildet, der dem früheren Rechte fremd war. Eines Aktes, der eine
gewisse Verwandtschaft hat mit dem Urteile in der Justiz, manchmal
dessen Gestalt vollständig annehmen kann, immer aber die rechtliche
Bestimmung des Einzelfalles bedeutet. Er ist es, der das Bild des

17 Der Ausdruck ist dem Englischen Recht entnommen, wo er die weite Be-
deutung der jurisdictio des kan. R. hat. Gneist will damit die „quasirichterliche
Stellung“ der Verwaltungsbehörden bezeichnen (Verw., Just., Rechtsweg S. 167, 170;
vgl. auch Engl. V.R. I S. 388, 390, 394). Sehr gut v. Sarwey, Öff. R. u.
V.R.Pfl. S. 4: Verwaltungsjurisdiktion ist „jede mit zwingender Kraft erfolgende
Bestimmung menschlicher Lebensverhältnisse durch die Organe des Staates“ auſser-
halb der Justiz. Ebenda S. 639 Note 1 und Allg. V.R. S. 45 ff.
18 Der Name Rechtsgeschäft zerreiſst den Zusammenhang mit der Justiz,
um die Bedeutung des Aktes für die freie Bestimmung des Rechtsverhältnisses
desto mehr zu betonen (vgl. unten § 9 Note 14); umgekehrt wird die Ähnlichkeit
mit der Justiz durch die Verallgemeinerung des Ausdrucks Rechtskraft übertrieben;
Ulbrich, Östr. St.R. S. 438: „die materielle Rechtskraft einer Verwaltungs-
verfügung“.
19 G. Meyer, V.R. I S. 32 ff.; ders. in Wörterbuch I S. 669 ff.;
Loening, V.R. S. 241 ff.; Rosin, Pol. Verord. S. 8; Laband, St.R. I S. 69;
Bernatzik, Rechtskraft S. 9 ff.; Ulbrich in Grünh. Ztschft. 9 S. 27 ff.
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[64/0084] Geschichtliche Entwicklungsstufen. Sobald man diesen Gedanken einmal angenommen hat, erkennt man sofort, in wie groſser Mannigfaltigkeit solche Beschlüsse in mehr oder minder formloser Gestalt durch die ganze Verwaltungsthätigkeit sich hindurch ziehen, Verfügungen und Entscheidungen aller Art, die nun als gleichwertig anzusehen sind. Neue Namen sind entstanden, um ihrer Eigentümlichkeit gerecht zu werden, um anzudeuten, daſs sie mehr sind wie die alten Befehle des Polizeistaates. Sie geben dem Unterthanen nicht bloſs kund, was die Obrigkeit von ihm verlangt, sondern enthalten eine rechtliche Bestimmung seines Verhältnisses, die dann von der Obrigkeit selbst geachtet und durchgeführt werden soll, zu seinem Vorteil wie zu seinem Nachteil. Man spricht von einer Verwaltungsjuris- diktion wegen der Ähnlichkeit mit dem Urteil, das jus in concreto macht 17, von öffentlichrechtlichem Rechtsgeschäfte und von materieller Rechtskraft in der Verwaltung 18; der Name Verwaltungsakt wird aus der französischen Rechtssprache über- nommen, um diese obrigkeitliche, rechtlich bedeutsame Bestimmung des Einzelfalles zu bezeichnen, und die Verwaltungsakte selbst sucht man wieder einzuteilen nach der Art der rechtlichen Bestimmung, die sie dem Einzelnen geben 19. — Wir werden nicht in Zweifel sein können. Unser heutiges Recht hat für die Verwaltung die Idee eines obrigkeitlichen Aktes aus- gebildet, der dem früheren Rechte fremd war. Eines Aktes, der eine gewisse Verwandtschaft hat mit dem Urteile in der Justiz, manchmal dessen Gestalt vollständig annehmen kann, immer aber die rechtliche Bestimmung des Einzelfalles bedeutet. Er ist es, der das Bild des 17 Der Ausdruck ist dem Englischen Recht entnommen, wo er die weite Be- deutung der jurisdictio des kan. R. hat. Gneist will damit die „quasirichterliche Stellung“ der Verwaltungsbehörden bezeichnen (Verw., Just., Rechtsweg S. 167, 170; vgl. auch Engl. V.R. I S. 388, 390, 394). Sehr gut v. Sarwey, Öff. R. u. V.R.Pfl. S. 4: Verwaltungsjurisdiktion ist „jede mit zwingender Kraft erfolgende Bestimmung menschlicher Lebensverhältnisse durch die Organe des Staates“ auſser- halb der Justiz. Ebenda S. 639 Note 1 und Allg. V.R. S. 45 ff. 18 Der Name Rechtsgeschäft zerreiſst den Zusammenhang mit der Justiz, um die Bedeutung des Aktes für die freie Bestimmung des Rechtsverhältnisses desto mehr zu betonen (vgl. unten § 9 Note 14); umgekehrt wird die Ähnlichkeit mit der Justiz durch die Verallgemeinerung des Ausdrucks Rechtskraft übertrieben; Ulbrich, Östr. St.R. S. 438: „die materielle Rechtskraft einer Verwaltungs- verfügung“. 19 G. Meyer, V.R. I S. 32 ff.; ders. in Wörterbuch I S. 669 ff.; Loening, V.R. S. 241 ff.; Rosin, Pol. Verord. S. 8; Laband, St.R. I S. 69; Bernatzik, Rechtskraft S. 9 ff.; Ulbrich in Grünh. Ztschft. 9 S. 27 ff.

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/84>, abgerufen am 06.05.2024.