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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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§ 19. Grenzen der Polizeigewalt.

II. Die Polizeigewalt geht auf Geltendmachung der allgemeinen
Unterthanenpflicht, die Störung der guten Ordnung des Gemeinwesens
zu vermeiden. Diese Geltendmachung besteht in Abwehr der pflicht-
widrigen Störung. Die Abwehr aber erhält ihren allgemeinen Inhalt
nach Richtung, Mass und Art bestimmt durch den Zusammenhang mit
jener Pflicht.

1. Die obrigkeitliche Gewalt bedarf als solche eines Rechts-
subjektes,
auf welches sie wirkt. Für die Polizeigewalt kann
dieses Rechtssubjekt kein anderes sein als der Unterthan, von welchem
die Störung der guten Ordnung des Gemeinwesens ausgeht. Denn
die Pflicht zur Vermeidung der Störung kann offenbar gegen sonst
niemand geltend gemacht werden als gegen den, der sie verletzt oder
auf dem Wege ist, sie zu verletzen.

Die Frage, wer das ist, darf allerdings nicht nach den Formen
der Kausalität beantwortet werden, wie das Strafurteil oder das sitt-
liche Urteil sie handhaben. Die Polizei hat es nicht mit dem Menschen
an sich zu thun, sondern mit der gesellschaftlichen Einzelheit, die der
Gesellschaft als Gesamtheit gegenübersteht. Ausgeht die Störung
von demjenigen, dessen Lebenskreise sie entspringt. Nicht bloss
sein persönliches Verhalten wird ihm dafür zugerechnet, sondern auch
der gefährliche Zustand seiner Sachen, die Schäden, die aus seinem
Hauswesen, aus seinem Gewerbebetriebe der guten Ordnung drohen;
wegen allem, wovon er der gesellschaftliche Mittelpunkt
ist, trägt er die gesellschaftliche Verantwortlichkeit und kann er
durch obrigkeitliche Massregeln getroffen werden, damit er die Störung
vermeide, unterlasse und beseitige9.

So umfassend diese Verantwortlichkeit ist, so hat sie doch in
ihrer Grundlage selbst ihre Grenzen: nicht kann der Einzelne poli-
zeilich verantwortlich gemacht und in seiner Freiheit beschränkt werden
wegen Störungen, welche von einem fremden Lebenskreise ausgehen.

Wenn es sich einfach darum handelte, Störungen des Gemein-
wesens durch obrigkeitliche Gewalt zu beseitigen, so würde es ja
häufig der geradeste Weg zum Ziel sein, dem Nachbar dessen, von

9 Insofern verlangt Seydel, Bayr. St.R. V S. 6, für das polizeiliche Ein-
schreiten richtig eine Gefährdung durch Menschen. G. Meyer, V.R. I S. 72
Note 6, findet das zu eng; er denkt offenbar an die Gefährdung durch Sachen,
gegen welche die Polizei wirken müsste, z. B. durch ein einsturzdrohendes Ge-
bäude. Allein wenn er die polizeiliche Beseitigung eines solchen als Beschränkung
der persönlichen Freiheit des Eigentümers gelten lässt, dann ist die Einsturz-
gefahr, die das Gebäude bietet, doch wohl mit demselben Rechte eine Gefährdung,
die von dem Eigentümer ausgeht.
§ 19. Grenzen der Polizeigewalt.

II. Die Polizeigewalt geht auf Geltendmachung der allgemeinen
Unterthanenpflicht, die Störung der guten Ordnung des Gemeinwesens
zu vermeiden. Diese Geltendmachung besteht in Abwehr der pflicht-
widrigen Störung. Die Abwehr aber erhält ihren allgemeinen Inhalt
nach Richtung, Maſs und Art bestimmt durch den Zusammenhang mit
jener Pflicht.

1. Die obrigkeitliche Gewalt bedarf als solche eines Rechts-
subjektes,
auf welches sie wirkt. Für die Polizeigewalt kann
dieses Rechtssubjekt kein anderes sein als der Unterthan, von welchem
die Störung der guten Ordnung des Gemeinwesens ausgeht. Denn
die Pflicht zur Vermeidung der Störung kann offenbar gegen sonst
niemand geltend gemacht werden als gegen den, der sie verletzt oder
auf dem Wege ist, sie zu verletzen.

Die Frage, wer das ist, darf allerdings nicht nach den Formen
der Kausalität beantwortet werden, wie das Strafurteil oder das sitt-
liche Urteil sie handhaben. Die Polizei hat es nicht mit dem Menschen
an sich zu thun, sondern mit der gesellschaftlichen Einzelheit, die der
Gesellschaft als Gesamtheit gegenübersteht. Ausgeht die Störung
von demjenigen, dessen Lebenskreise sie entspringt. Nicht bloſs
sein persönliches Verhalten wird ihm dafür zugerechnet, sondern auch
der gefährliche Zustand seiner Sachen, die Schäden, die aus seinem
Hauswesen, aus seinem Gewerbebetriebe der guten Ordnung drohen;
wegen allem, wovon er der gesellschaftliche Mittelpunkt
ist, trägt er die gesellschaftliche Verantwortlichkeit und kann er
durch obrigkeitliche Maſsregeln getroffen werden, damit er die Störung
vermeide, unterlasse und beseitige9.

So umfassend diese Verantwortlichkeit ist, so hat sie doch in
ihrer Grundlage selbst ihre Grenzen: nicht kann der Einzelne poli-
zeilich verantwortlich gemacht und in seiner Freiheit beschränkt werden
wegen Störungen, welche von einem fremden Lebenskreise ausgehen.

Wenn es sich einfach darum handelte, Störungen des Gemein-
wesens durch obrigkeitliche Gewalt zu beseitigen, so würde es ja
häufig der geradeste Weg zum Ziel sein, dem Nachbar dessen, von

9 Insofern verlangt Seydel, Bayr. St.R. V S. 6, für das polizeiliche Ein-
schreiten richtig eine Gefährdung durch Menschen. G. Meyer, V.R. I S. 72
Note 6, findet das zu eng; er denkt offenbar an die Gefährdung durch Sachen,
gegen welche die Polizei wirken müſste, z. B. durch ein einsturzdrohendes Ge-
bäude. Allein wenn er die polizeiliche Beseitigung eines solchen als Beschränkung
der persönlichen Freiheit des Eigentümers gelten läſst, dann ist die Einsturz-
gefahr, die das Gebäude bietet, doch wohl mit demselben Rechte eine Gefährdung,
die von dem Eigentümer ausgeht.
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[265/0285] § 19. Grenzen der Polizeigewalt. II. Die Polizeigewalt geht auf Geltendmachung der allgemeinen Unterthanenpflicht, die Störung der guten Ordnung des Gemeinwesens zu vermeiden. Diese Geltendmachung besteht in Abwehr der pflicht- widrigen Störung. Die Abwehr aber erhält ihren allgemeinen Inhalt nach Richtung, Maſs und Art bestimmt durch den Zusammenhang mit jener Pflicht. 1. Die obrigkeitliche Gewalt bedarf als solche eines Rechts- subjektes, auf welches sie wirkt. Für die Polizeigewalt kann dieses Rechtssubjekt kein anderes sein als der Unterthan, von welchem die Störung der guten Ordnung des Gemeinwesens ausgeht. Denn die Pflicht zur Vermeidung der Störung kann offenbar gegen sonst niemand geltend gemacht werden als gegen den, der sie verletzt oder auf dem Wege ist, sie zu verletzen. Die Frage, wer das ist, darf allerdings nicht nach den Formen der Kausalität beantwortet werden, wie das Strafurteil oder das sitt- liche Urteil sie handhaben. Die Polizei hat es nicht mit dem Menschen an sich zu thun, sondern mit der gesellschaftlichen Einzelheit, die der Gesellschaft als Gesamtheit gegenübersteht. Ausgeht die Störung von demjenigen, dessen Lebenskreise sie entspringt. Nicht bloſs sein persönliches Verhalten wird ihm dafür zugerechnet, sondern auch der gefährliche Zustand seiner Sachen, die Schäden, die aus seinem Hauswesen, aus seinem Gewerbebetriebe der guten Ordnung drohen; wegen allem, wovon er der gesellschaftliche Mittelpunkt ist, trägt er die gesellschaftliche Verantwortlichkeit und kann er durch obrigkeitliche Maſsregeln getroffen werden, damit er die Störung vermeide, unterlasse und beseitige 9. So umfassend diese Verantwortlichkeit ist, so hat sie doch in ihrer Grundlage selbst ihre Grenzen: nicht kann der Einzelne poli- zeilich verantwortlich gemacht und in seiner Freiheit beschränkt werden wegen Störungen, welche von einem fremden Lebenskreise ausgehen. Wenn es sich einfach darum handelte, Störungen des Gemein- wesens durch obrigkeitliche Gewalt zu beseitigen, so würde es ja häufig der geradeste Weg zum Ziel sein, dem Nachbar dessen, von 9 Insofern verlangt Seydel, Bayr. St.R. V S. 6, für das polizeiliche Ein- schreiten richtig eine Gefährdung durch Menschen. G. Meyer, V.R. I S. 72 Note 6, findet das zu eng; er denkt offenbar an die Gefährdung durch Sachen, gegen welche die Polizei wirken müſste, z. B. durch ein einsturzdrohendes Ge- bäude. Allein wenn er die polizeiliche Beseitigung eines solchen als Beschränkung der persönlichen Freiheit des Eigentümers gelten läſst, dann ist die Einsturz- gefahr, die das Gebäude bietet, doch wohl mit demselben Rechte eine Gefährdung, die von dem Eigentümer ausgeht.

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/285>, abgerufen am 28.11.2024.