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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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§ 15. Umfang der Rechtskraft.
versagt sein sollen, Erlaubnisse, Verleihungen, Befreiungen, Ge-
währungen verschiedener Art. Da gilt nun die Regel, dass die Rechts-
kraft eine Änderung zum Vorteil der Partei nicht hindert. Das ist
gerade die Thatsache, die vor allem dahin geführt hat, an der Rechts-
kraft in Verwaltungssachen überhaupt zu zweifeln. Sie wird voll-
kommen klar und einleuchtend, wenn man einerseits erkennt, dass
die Rechtskraft nichts anderes ist als ein Recht der Partei am Urteil,
und andererseits, darauf verzichtend, den Staat selbst sich überall als
Partei dazu zu denken, den Begriff der einseitigen Rechtspflege auf-
nimmt22.

Die Verwaltungsrechtspflege kann aber auch eine zweiseitige sein.
Dann tritt bei ihr jene doppelte Gebundenheit des Urteils ein, die
der Civilrechtspflege eigentümlich ist: die an sich zulässige Änderung

22 Dass die Rechtskraft einem neuen Gesuch des Abgewiesenen nicht im Wege
steht, ist ausser Streit; nur wie das zu erklären sei, bleibt rätselhaft, so lange man
sich begnügt, in der Rechtskraft eine geheimnisvolle Heiligkeit des ergangenen
Urteils zu verehren, auf deren Grund und juristischen Kern weiter nicht zurück-
gegangen werden braucht. -- Am nächsten kommt der Wahrheit die Auffassung in
O.V.G. 25. Juni 1879 (Samml. V S. 292): die Verweigerung einer Schankwirtschafts-
erlaubnis war vom Verwaltungsgericht bestätigt worden; dem neuen Gesuch steht
die res judicata nicht entgegen, denn diese "ist nur zum Schutze einer Privatperson
gegeben, nicht für den Beamten, welcher das öffentliche Interesse zu vertreten
hat" -- sagen wir: nicht für die vollziehende Gewalt, weil sie nicht Partei ist. --
O.V.G. 4. April 1889 (Reger, IX S. 468) sucht den Grund darin, dass die gericht-
liche Versagung der Erlaubnis "in der Regel" nicht die Bedeutung einer die An-
gelegenheit prinzipiell erledigenden, sondern lediglich einer ausschliesslich über den
vorliegenden Antrag getroffenen Entscheidung habe, -- also eine Art Seitenstück
der Revision und Kassation, was doch gänzlich unwahr ist. -- v. Stengel, Organis.
S. 524, will damit helfen, dass diese Erlaubnissachen "zwar im Verwaltungsstreit-
verfahren verhandelt, in Wirklichkeit aber keine Verwaltungsrechtsstreitigkeiten,
sondern blosse Beschlusssachen sind" -- aber die Rechtskraft setzt keinen Rechts-
streit voraus, und wenn Beschlusssachen bloss heissen soll: keine rechtskraftfähigen
Urteile, so ist damit nur nochmals gesagt, was erklärt werden sollte. Bernatzik,
Rechtskraft S. 144, widerspricht dem mit Recht, bekämpft aber auch die Begrün-
dung in O.V.G. 25. Juni 1879 und behauptet dafür: die Versagung der Erlaubnis
werde allerdings nicht rechtskräftig, wenn sie keine Entscheidung über ein Recht
des Gesuchstellers enthalte, wohl aber, wenn sie deshalb erging, weil dem Bitt-
steller eins der gesetzlichen Erfordernisse mangele, z. B. Unbescholtenheit, oder
weil eine Betriebsstätte schädlichen Rauch entwickele u. dergl. Diese Unter-
scheidung entspricht Bernatziks Theorie von der Rechtsprechung als Grundlage der
Rechtskraft, aber keineswegs der Wirklichkeit. Ähnlich v. Sarwey, Öff. R. u.
V.R.Pfl. S. 733.

§ 15. Umfang der Rechtskraft.
versagt sein sollen, Erlaubnisse, Verleihungen, Befreiungen, Ge-
währungen verschiedener Art. Da gilt nun die Regel, daſs die Rechts-
kraft eine Änderung zum Vorteil der Partei nicht hindert. Das ist
gerade die Thatsache, die vor allem dahin geführt hat, an der Rechts-
kraft in Verwaltungssachen überhaupt zu zweifeln. Sie wird voll-
kommen klar und einleuchtend, wenn man einerseits erkennt, daſs
die Rechtskraft nichts anderes ist als ein Recht der Partei am Urteil,
und andererseits, darauf verzichtend, den Staat selbst sich überall als
Partei dazu zu denken, den Begriff der einseitigen Rechtspflege auf-
nimmt22.

Die Verwaltungsrechtspflege kann aber auch eine zweiseitige sein.
Dann tritt bei ihr jene doppelte Gebundenheit des Urteils ein, die
der Civilrechtspflege eigentümlich ist: die an sich zulässige Änderung

22 Daſs die Rechtskraft einem neuen Gesuch des Abgewiesenen nicht im Wege
steht, ist auſser Streit; nur wie das zu erklären sei, bleibt rätselhaft, so lange man
sich begnügt, in der Rechtskraft eine geheimnisvolle Heiligkeit des ergangenen
Urteils zu verehren, auf deren Grund und juristischen Kern weiter nicht zurück-
gegangen werden braucht. — Am nächsten kommt der Wahrheit die Auffassung in
O.V.G. 25. Juni 1879 (Samml. V S. 292): die Verweigerung einer Schankwirtschafts-
erlaubnis war vom Verwaltungsgericht bestätigt worden; dem neuen Gesuch steht
die res judicata nicht entgegen, denn diese „ist nur zum Schutze einer Privatperson
gegeben, nicht für den Beamten, welcher das öffentliche Interesse zu vertreten
hat“ — sagen wir: nicht für die vollziehende Gewalt, weil sie nicht Partei ist. —
O.V.G. 4. April 1889 (Reger, IX S. 468) sucht den Grund darin, daſs die gericht-
liche Versagung der Erlaubnis „in der Regel“ nicht die Bedeutung einer die An-
gelegenheit prinzipiell erledigenden, sondern lediglich einer ausschlieſslich über den
vorliegenden Antrag getroffenen Entscheidung habe, — also eine Art Seitenstück
der Revision und Kassation, was doch gänzlich unwahr ist. — v. Stengel, Organis.
S. 524, will damit helfen, daſs diese Erlaubnissachen „zwar im Verwaltungsstreit-
verfahren verhandelt, in Wirklichkeit aber keine Verwaltungsrechtsstreitigkeiten,
sondern bloſse Beschluſssachen sind“ — aber die Rechtskraft setzt keinen Rechts-
streit voraus, und wenn Beschluſssachen bloſs heiſsen soll: keine rechtskraftfähigen
Urteile, so ist damit nur nochmals gesagt, was erklärt werden sollte. Bernatzik,
Rechtskraft S. 144, widerspricht dem mit Recht, bekämpft aber auch die Begrün-
dung in O.V.G. 25. Juni 1879 und behauptet dafür: die Versagung der Erlaubnis
werde allerdings nicht rechtskräftig, wenn sie keine Entscheidung über ein Recht
des Gesuchstellers enthalte, wohl aber, wenn sie deshalb erging, weil dem Bitt-
steller eins der gesetzlichen Erfordernisse mangele, z. B. Unbescholtenheit, oder
weil eine Betriebsstätte schädlichen Rauch entwickele u. dergl. Diese Unter-
scheidung entspricht Bernatziks Theorie von der Rechtsprechung als Grundlage der
Rechtskraft, aber keineswegs der Wirklichkeit. Ähnlich v. Sarwey, Öff. R. u.
V.R.Pfl. S. 733.
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[207/0227] § 15. Umfang der Rechtskraft. versagt sein sollen, Erlaubnisse, Verleihungen, Befreiungen, Ge- währungen verschiedener Art. Da gilt nun die Regel, daſs die Rechts- kraft eine Änderung zum Vorteil der Partei nicht hindert. Das ist gerade die Thatsache, die vor allem dahin geführt hat, an der Rechts- kraft in Verwaltungssachen überhaupt zu zweifeln. Sie wird voll- kommen klar und einleuchtend, wenn man einerseits erkennt, daſs die Rechtskraft nichts anderes ist als ein Recht der Partei am Urteil, und andererseits, darauf verzichtend, den Staat selbst sich überall als Partei dazu zu denken, den Begriff der einseitigen Rechtspflege auf- nimmt 22. Die Verwaltungsrechtspflege kann aber auch eine zweiseitige sein. Dann tritt bei ihr jene doppelte Gebundenheit des Urteils ein, die der Civilrechtspflege eigentümlich ist: die an sich zulässige Änderung 22 Daſs die Rechtskraft einem neuen Gesuch des Abgewiesenen nicht im Wege steht, ist auſser Streit; nur wie das zu erklären sei, bleibt rätselhaft, so lange man sich begnügt, in der Rechtskraft eine geheimnisvolle Heiligkeit des ergangenen Urteils zu verehren, auf deren Grund und juristischen Kern weiter nicht zurück- gegangen werden braucht. — Am nächsten kommt der Wahrheit die Auffassung in O.V.G. 25. Juni 1879 (Samml. V S. 292): die Verweigerung einer Schankwirtschafts- erlaubnis war vom Verwaltungsgericht bestätigt worden; dem neuen Gesuch steht die res judicata nicht entgegen, denn diese „ist nur zum Schutze einer Privatperson gegeben, nicht für den Beamten, welcher das öffentliche Interesse zu vertreten hat“ — sagen wir: nicht für die vollziehende Gewalt, weil sie nicht Partei ist. — O.V.G. 4. April 1889 (Reger, IX S. 468) sucht den Grund darin, daſs die gericht- liche Versagung der Erlaubnis „in der Regel“ nicht die Bedeutung einer die An- gelegenheit prinzipiell erledigenden, sondern lediglich einer ausschlieſslich über den vorliegenden Antrag getroffenen Entscheidung habe, — also eine Art Seitenstück der Revision und Kassation, was doch gänzlich unwahr ist. — v. Stengel, Organis. S. 524, will damit helfen, daſs diese Erlaubnissachen „zwar im Verwaltungsstreit- verfahren verhandelt, in Wirklichkeit aber keine Verwaltungsrechtsstreitigkeiten, sondern bloſse Beschluſssachen sind“ — aber die Rechtskraft setzt keinen Rechts- streit voraus, und wenn Beschluſssachen bloſs heiſsen soll: keine rechtskraftfähigen Urteile, so ist damit nur nochmals gesagt, was erklärt werden sollte. Bernatzik, Rechtskraft S. 144, widerspricht dem mit Recht, bekämpft aber auch die Begrün- dung in O.V.G. 25. Juni 1879 und behauptet dafür: die Versagung der Erlaubnis werde allerdings nicht rechtskräftig, wenn sie keine Entscheidung über ein Recht des Gesuchstellers enthalte, wohl aber, wenn sie deshalb erging, weil dem Bitt- steller eins der gesetzlichen Erfordernisse mangele, z. B. Unbescholtenheit, oder weil eine Betriebsstätte schädlichen Rauch entwickele u. dergl. Diese Unter- scheidung entspricht Bernatziks Theorie von der Rechtsprechung als Grundlage der Rechtskraft, aber keineswegs der Wirklichkeit. Ähnlich v. Sarwey, Öff. R. u. V.R.Pfl. S. 733.

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/227>, abgerufen am 02.05.2024.