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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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§ 14. Arten der Verwaltungsstreitsachen.

Den Ausgang werden wir zu nehmen haben von dem französisch-
rechtlichen Rekurs wegen Machtüberschreitung, der auf die
deutsche Rechtsentwicklung von grossem Einfluss geworden ist, wenn
auch gar oft nicht richtig verstanden. Er ist, wie der Kassations-
rekurs, aus dem alten Staatswesen übernommen und durch eine lange
Übung bewährt und auf das genaueste ausgebildet.

Der ursprüngliche Name ist reclamation d'incompetence, auch
jetzt noch heisst er meist recours pour incompetence ou exces de
pouvoir. Der exces de pouvoir ist selbst nur eine besondere Form
der Zuständigkeitsüberschreitung. Es handelt sich um eine Über-
schreitung der der Behörde gegebenen Vollmachten zur Ausübung
staatlicher Gewalt dem Einzelnen gegenüber. Damit ist gesagt, dass
die Nachprüfung, welche dieses Rechtsmittel erwirkt, nur auf die Ein-
haltung der äusseren Grenzen der behördlichen Machtbefugnisse geht.
Dass unrichtige Behandlung von Ermessensfragen die Anfechtung nicht
begründet, wird uns selbstverständlich scheinen; aber auch die un-
richtige Anwendung des Gesetzes genügt an sich nicht. So wenig der
Richter seine Zuständigkeit überschreitet, wenn er das Gesetz falsch
auslegt, so wenig begründet ein solcher Fehler den recours pour
exces de pouvoir gegen die Verwaltungsbehörde. Die Frage ist einzig,
ob die Behörde noch innerhalb ihrer Vollmacht gehandelt hat; ob gut
oder schlecht, rechtmässig oder rechtsirrtümlich, ist gleichgültig.
Überschreitung der Vollmacht kann aber geschehen ebenso gut durch
Missbrauch des freien Ermessens, als durch Verkennung der gesetz-
lichen Bedingungen und äusseren Grenzen, die ihrer Macht gesetzt
sind. Jede Überschreitung bedeutet dann bei dem dadurch Benach-
teiligten ein droit lese, eine Verletzung "in seinen Rechten" und da-
gegen ist ihm das Rechtsmittel gegeben25.

25 Vgl. die Darstellung dieses Rechtsmittels in Theorie des Franz. V.R.
S. 139 ff. Im Gegensatz zu dem dort Ausgeführten wird aber wohl anzunehmen
sein, dass es sich hier nicht um Verwaltungsrechtspflege handelt. Dieser Rekurs
ist der Zwillingsbruder des recours en cassation; beide stammen aus den Zuständig-
keiten des alten conseil du roi; wie die Überwachung der Gerichte durch das
conseil prive, so wurde die Überwachung der Intendanten und sonstigen Ver-
waltungsbeamten durch das conseil des depeches geübt. In der Praxis dieser
Unterabteilungen des Staatsrats haben beide Rechtsmittel ihre Gestalt ausgebildet
bekommen. Der Kassationsrekurs ist aber von Haus aus nur eine förmliche Be-
schwerde (oben § 12, II), der Ausspruch darüber ein Beschluss, kein Urteil, im
Gegensatz zu unserer Revision, die ganz auf dem Boden der streitigen Rechts-
pflege bleibt; vgl. oben Note 18. Durch die spätere Gesetzgebung (Ges. v.
1. April 1837) ist der Kassationshof allerdings Gericht geworden: seine Aus-
§ 14. Arten der Verwaltungsstreitsachen.

Den Ausgang werden wir zu nehmen haben von dem französisch-
rechtlichen Rekurs wegen Machtüberschreitung, der auf die
deutsche Rechtsentwicklung von groſsem Einfluſs geworden ist, wenn
auch gar oft nicht richtig verstanden. Er ist, wie der Kassations-
rekurs, aus dem alten Staatswesen übernommen und durch eine lange
Übung bewährt und auf das genaueste ausgebildet.

Der ursprüngliche Name ist réclamation d’incompétence, auch
jetzt noch heiſst er meist recours pour incompétence ou excès de
pouvoir. Der excès de pouvoir ist selbst nur eine besondere Form
der Zuständigkeitsüberschreitung. Es handelt sich um eine Über-
schreitung der der Behörde gegebenen Vollmachten zur Ausübung
staatlicher Gewalt dem Einzelnen gegenüber. Damit ist gesagt, daſs
die Nachprüfung, welche dieses Rechtsmittel erwirkt, nur auf die Ein-
haltung der äuſseren Grenzen der behördlichen Machtbefugnisse geht.
Daſs unrichtige Behandlung von Ermessensfragen die Anfechtung nicht
begründet, wird uns selbstverständlich scheinen; aber auch die un-
richtige Anwendung des Gesetzes genügt an sich nicht. So wenig der
Richter seine Zuständigkeit überschreitet, wenn er das Gesetz falsch
auslegt, so wenig begründet ein solcher Fehler den recours pour
excès de pouvoir gegen die Verwaltungsbehörde. Die Frage ist einzig,
ob die Behörde noch innerhalb ihrer Vollmacht gehandelt hat; ob gut
oder schlecht, rechtmäſsig oder rechtsirrtümlich, ist gleichgültig.
Überschreitung der Vollmacht kann aber geschehen ebenso gut durch
Miſsbrauch des freien Ermessens, als durch Verkennung der gesetz-
lichen Bedingungen und äuſseren Grenzen, die ihrer Macht gesetzt
sind. Jede Überschreitung bedeutet dann bei dem dadurch Benach-
teiligten ein droit lésé, eine Verletzung „in seinen Rechten“ und da-
gegen ist ihm das Rechtsmittel gegeben25.

25 Vgl. die Darstellung dieses Rechtsmittels in Theorie des Franz. V.R.
S. 139 ff. Im Gegensatz zu dem dort Ausgeführten wird aber wohl anzunehmen
sein, daſs es sich hier nicht um Verwaltungsrechtspflege handelt. Dieser Rekurs
ist der Zwillingsbruder des recours en cassation; beide stammen aus den Zuständig-
keiten des alten conseil du roi; wie die Überwachung der Gerichte durch das
conseil privé, so wurde die Überwachung der Intendanten und sonstigen Ver-
waltungsbeamten durch das conseil des dépêches geübt. In der Praxis dieser
Unterabteilungen des Staatsrats haben beide Rechtsmittel ihre Gestalt ausgebildet
bekommen. Der Kassationsrekurs ist aber von Haus aus nur eine förmliche Be-
schwerde (oben § 12, II), der Ausspruch darüber ein Beschluſs, kein Urteil, im
Gegensatz zu unserer Revision, die ganz auf dem Boden der streitigen Rechts-
pflege bleibt; vgl. oben Note 18. Durch die spätere Gesetzgebung (Ges. v.
1. April 1837) ist der Kassationshof allerdings Gericht geworden: seine Aus-
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[191/0211] § 14. Arten der Verwaltungsstreitsachen. Den Ausgang werden wir zu nehmen haben von dem französisch- rechtlichen Rekurs wegen Machtüberschreitung, der auf die deutsche Rechtsentwicklung von groſsem Einfluſs geworden ist, wenn auch gar oft nicht richtig verstanden. Er ist, wie der Kassations- rekurs, aus dem alten Staatswesen übernommen und durch eine lange Übung bewährt und auf das genaueste ausgebildet. Der ursprüngliche Name ist réclamation d’incompétence, auch jetzt noch heiſst er meist recours pour incompétence ou excès de pouvoir. Der excès de pouvoir ist selbst nur eine besondere Form der Zuständigkeitsüberschreitung. Es handelt sich um eine Über- schreitung der der Behörde gegebenen Vollmachten zur Ausübung staatlicher Gewalt dem Einzelnen gegenüber. Damit ist gesagt, daſs die Nachprüfung, welche dieses Rechtsmittel erwirkt, nur auf die Ein- haltung der äuſseren Grenzen der behördlichen Machtbefugnisse geht. Daſs unrichtige Behandlung von Ermessensfragen die Anfechtung nicht begründet, wird uns selbstverständlich scheinen; aber auch die un- richtige Anwendung des Gesetzes genügt an sich nicht. So wenig der Richter seine Zuständigkeit überschreitet, wenn er das Gesetz falsch auslegt, so wenig begründet ein solcher Fehler den recours pour excès de pouvoir gegen die Verwaltungsbehörde. Die Frage ist einzig, ob die Behörde noch innerhalb ihrer Vollmacht gehandelt hat; ob gut oder schlecht, rechtmäſsig oder rechtsirrtümlich, ist gleichgültig. Überschreitung der Vollmacht kann aber geschehen ebenso gut durch Miſsbrauch des freien Ermessens, als durch Verkennung der gesetz- lichen Bedingungen und äuſseren Grenzen, die ihrer Macht gesetzt sind. Jede Überschreitung bedeutet dann bei dem dadurch Benach- teiligten ein droit lésé, eine Verletzung „in seinen Rechten“ und da- gegen ist ihm das Rechtsmittel gegeben 25. 25 Vgl. die Darstellung dieses Rechtsmittels in Theorie des Franz. V.R. S. 139 ff. Im Gegensatz zu dem dort Ausgeführten wird aber wohl anzunehmen sein, daſs es sich hier nicht um Verwaltungsrechtspflege handelt. Dieser Rekurs ist der Zwillingsbruder des recours en cassation; beide stammen aus den Zuständig- keiten des alten conseil du roi; wie die Überwachung der Gerichte durch das conseil privé, so wurde die Überwachung der Intendanten und sonstigen Ver- waltungsbeamten durch das conseil des dépêches geübt. In der Praxis dieser Unterabteilungen des Staatsrats haben beide Rechtsmittel ihre Gestalt ausgebildet bekommen. Der Kassationsrekurs ist aber von Haus aus nur eine förmliche Be- schwerde (oben § 12, II), der Ausspruch darüber ein Beschluſs, kein Urteil, im Gegensatz zu unserer Revision, die ganz auf dem Boden der streitigen Rechts- pflege bleibt; vgl. oben Note 18. Durch die spätere Gesetzgebung (Ges. v. 1. April 1837) ist der Kassationshof allerdings Gericht geworden: seine Aus-

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/211>, abgerufen am 02.05.2024.