"Der Friede Gottes sei mit dir, mein Sohn!" be- grüßte sie mich. "Verzeihe mir, daß ich dich zu mir heraufsteigen ließ. Meine Seele hat dich lieb, und im Hause des Melek kann ich nicht allein mit dir sein; darum rief ich dich zu mir. Hast du ein wenig Zeit für mich?"
"So viel du willst, meine gute Mutter."
"So komm!"
Sie nahm mich bei der Hand, wie es eine Mutter mit ihrem Kinde thut, und führte mich noch einige hundert Schritte weiter, bis wir einen moosbewachsenen Fleck erreichten, von dem aus man die ganze Gegend über- blicken konnte, ohne selbst bemerkt zu werden. Sie setzte sich nieder.
"Komm, nimm an meiner Seite Platz!"
Ich folgte ihrem Gebote. Sie ließ den weiten Mantel fallen, und nun saß sie neben mir so greis, so ehrwürdig, so Ehrfurcht gebietend, wie eine Gestalt aus der Zeit der Propheten Israels.
"Herr," begann sie, "blicke auf, dahin zwischen Süd und Ost. Diese Sonne bringt Frühling und Herbst, bringt Sommer und Winter; ihre Jahre sind mehr als hundert Male über mein Haupt dahingegangen. Siehe dieses Haupt an! Es hat nicht mehr das Grau des Alters, sondern das Weiß des Todes. Ich sagte dir bereits in Amadijah, daß ich nicht mehr lebe, und ich habe die Wahr- heit gesprochen; ich bin ein -- Geist, der Ruh 'i kulyan."
Sie hielt inne. Ihre Stimme klang dumpf und hohl, wie wirklich aus dem Grabe heraus; aber sie vibrierte doch wie unter der Regung eines lebendigen Herzens, und die Augen, die auf das Gestirn des Tages gerichtet waren, zeigten einen leichten, feuchten Glanz.
"Ich habe viel gehört und viel gesehen," fuhr sie fort. "Ich sah den Hohen fallen und den Niedern emporsteigen;
„Der Friede Gottes ſei mit dir, mein Sohn!“ be- grüßte ſie mich. „Verzeihe mir, daß ich dich zu mir heraufſteigen ließ. Meine Seele hat dich lieb, und im Hauſe des Melek kann ich nicht allein mit dir ſein; darum rief ich dich zu mir. Haſt du ein wenig Zeit für mich?“
„So viel du willſt, meine gute Mutter.“
„So komm!“
Sie nahm mich bei der Hand, wie es eine Mutter mit ihrem Kinde thut, und führte mich noch einige hundert Schritte weiter, bis wir einen moosbewachſenen Fleck erreichten, von dem aus man die ganze Gegend über- blicken konnte, ohne ſelbſt bemerkt zu werden. Sie ſetzte ſich nieder.
„Komm, nimm an meiner Seite Platz!“
Ich folgte ihrem Gebote. Sie ließ den weiten Mantel fallen, und nun ſaß ſie neben mir ſo greis, ſo ehrwürdig, ſo Ehrfurcht gebietend, wie eine Geſtalt aus der Zeit der Propheten Israels.
„Herr,“ begann ſie, „blicke auf, dahin zwiſchen Süd und Oſt. Dieſe Sonne bringt Frühling und Herbſt, bringt Sommer und Winter; ihre Jahre ſind mehr als hundert Male über mein Haupt dahingegangen. Siehe dieſes Haupt an! Es hat nicht mehr das Grau des Alters, ſondern das Weiß des Todes. Ich ſagte dir bereits in Amadijah, daß ich nicht mehr lebe, und ich habe die Wahr- heit geſprochen; ich bin ein — Geiſt, der Ruh 'i kulyan.“
Sie hielt inne. Ihre Stimme klang dumpf und hohl, wie wirklich aus dem Grabe heraus; aber ſie vibrierte doch wie unter der Regung eines lebendigen Herzens, und die Augen, die auf das Geſtirn des Tages gerichtet waren, zeigten einen leichten, feuchten Glanz.
„Ich habe viel gehört und viel geſehen,“ fuhr ſie fort. „Ich ſah den Hohen fallen und den Niedern emporſteigen;
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„Der Friede Gottes ſei mit dir, mein Sohn!“ be-
grüßte ſie mich. „Verzeihe mir, daß ich dich zu mir
heraufſteigen ließ. Meine Seele hat dich lieb, und im
Hauſe des Melek kann ich nicht allein mit dir ſein; darum
rief ich dich zu mir. Haſt du ein wenig Zeit für mich?“
„So viel du willſt, meine gute Mutter.“
„So komm!“
Sie nahm mich bei der Hand, wie es eine Mutter
mit ihrem Kinde thut, und führte mich noch einige hundert
Schritte weiter, bis wir einen moosbewachſenen Fleck
erreichten, von dem aus man die ganze Gegend über-
blicken konnte, ohne ſelbſt bemerkt zu werden. Sie ſetzte
ſich nieder.
„Komm, nimm an meiner Seite Platz!“
Ich folgte ihrem Gebote. Sie ließ den weiten
Mantel fallen, und nun ſaß ſie neben mir ſo greis, ſo
ehrwürdig, ſo Ehrfurcht gebietend, wie eine Geſtalt aus
der Zeit der Propheten Israels.
„Herr,“ begann ſie, „blicke auf, dahin zwiſchen Süd
und Oſt. Dieſe Sonne bringt Frühling und Herbſt,
bringt Sommer und Winter; ihre Jahre ſind mehr als
hundert Male über mein Haupt dahingegangen. Siehe
dieſes Haupt an! Es hat nicht mehr das Grau des Alters,
ſondern das Weiß des Todes. Ich ſagte dir bereits in
Amadijah, daß ich nicht mehr lebe, und ich habe die Wahr-
heit geſprochen; ich bin ein — Geiſt, der Ruh 'i kulyan.“
Sie hielt inne. Ihre Stimme klang dumpf und hohl,
wie wirklich aus dem Grabe heraus; aber ſie vibrierte
doch wie unter der Regung eines lebendigen Herzens, und
die Augen, die auf das Geſtirn des Tages gerichtet
waren, zeigten einen leichten, feuchten Glanz.
„Ich habe viel gehört und viel geſehen,“ fuhr ſie fort.
„Ich ſah den Hohen fallen und den Niedern emporſteigen;
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 630. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/644>, abgerufen am 25.11.2024.
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