nicht mehr auf mich warten solle. Ich werde morgen nach Schohrd kommen."
"Was aber soll sie meinem Vater sagen, wenn er dich von ihr verlangt?"
"Sie soll sagen, daß er sogleich zum Geist der Höhle kommen solle. Auch wenn du deinen Vater triffst, sendest du ihn sofort hinauf zur Höhle. Er muß kommen, er mag vorhaben, was er will. Wenn er nicht auf der Stelle gehorcht, so ist es um ihn geschehen."
"Herr, mir wird bange. Komm, laß uns gehen!"
Ich nahm den Hund wieder bei der Leine und das Mädchen bei der Hand. So stiegen wir bergab, wobei es natürlich schneller ging, als vorher bergan. Als wir die Einsattelung erreichten, wandten wir uns nun nach rechts hinab anstatt nach links hinüber, und das Mädchen kannte das Terrain so genau und führte mich so sicher, daß wir bereits nach einer starken Viertelstunde den Weg erreichten, der Lizan mit Schohrd verbindet. Hier blieb ich stehen und sagte:
"Nun kenne ich den Pfad; wir müssen uns trennen. Als ich heut hier herabgeschleppt wurde, habe ich mir den Weg genau angesehen. Ich danke dir, Ingdscha. Morgen sehen wir uns wieder. Gute Nacht!"
"Gute Nacht!"
Sie hatte meine Hand ergriffen und einen kaum fühl- baren Kuß darauf gehaucht; dann eilte sie wie ein ver- scheuchtes Reh in das Dunkel der Nacht hinein. Ich stand eine volle Minute lang bewegungslos, dann schlug ich den Weg nach Lizan ein, während meine Gedanken sich -- rückwärts nach Schohrd bewegten.
Ich mochte vielleicht die Hälfte der Strecke zurück- gelegt haben, als ich den Hufschlag eines Pferdes vor mir erschallen hörte. Ich trat zur Seite hinter einen Busch,
nicht mehr auf mich warten ſolle. Ich werde morgen nach Schohrd kommen.“
„Was aber ſoll ſie meinem Vater ſagen, wenn er dich von ihr verlangt?“
„Sie ſoll ſagen, daß er ſogleich zum Geiſt der Höhle kommen ſolle. Auch wenn du deinen Vater triffſt, ſendeſt du ihn ſofort hinauf zur Höhle. Er muß kommen, er mag vorhaben, was er will. Wenn er nicht auf der Stelle gehorcht, ſo iſt es um ihn geſchehen.“
„Herr, mir wird bange. Komm, laß uns gehen!“
Ich nahm den Hund wieder bei der Leine und das Mädchen bei der Hand. So ſtiegen wir bergab, wobei es natürlich ſchneller ging, als vorher bergan. Als wir die Einſattelung erreichten, wandten wir uns nun nach rechts hinab anſtatt nach links hinüber, und das Mädchen kannte das Terrain ſo genau und führte mich ſo ſicher, daß wir bereits nach einer ſtarken Viertelſtunde den Weg erreichten, der Lizan mit Schohrd verbindet. Hier blieb ich ſtehen und ſagte:
„Nun kenne ich den Pfad; wir müſſen uns trennen. Als ich heut hier herabgeſchleppt wurde, habe ich mir den Weg genau angeſehen. Ich danke dir, Ingdſcha. Morgen ſehen wir uns wieder. Gute Nacht!“
„Gute Nacht!“
Sie hatte meine Hand ergriffen und einen kaum fühl- baren Kuß darauf gehaucht; dann eilte ſie wie ein ver- ſcheuchtes Reh in das Dunkel der Nacht hinein. Ich ſtand eine volle Minute lang bewegungslos, dann ſchlug ich den Weg nach Lizan ein, während meine Gedanken ſich — rückwärts nach Schohrd bewegten.
Ich mochte vielleicht die Hälfte der Strecke zurück- gelegt haben, als ich den Hufſchlag eines Pferdes vor mir erſchallen hörte. Ich trat zur Seite hinter einen Buſch,
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nicht mehr auf mich warten ſolle. Ich werde morgen nach
Schohrd kommen.“
„Was aber ſoll ſie meinem Vater ſagen, wenn er
dich von ihr verlangt?“
„Sie ſoll ſagen, daß er ſogleich zum Geiſt der Höhle
kommen ſolle. Auch wenn du deinen Vater triffſt, ſendeſt
du ihn ſofort hinauf zur Höhle. Er muß kommen, er
mag vorhaben, was er will. Wenn er nicht auf der
Stelle gehorcht, ſo iſt es um ihn geſchehen.“
„Herr, mir wird bange. Komm, laß uns gehen!“
Ich nahm den Hund wieder bei der Leine und das
Mädchen bei der Hand. So ſtiegen wir bergab, wobei
es natürlich ſchneller ging, als vorher bergan. Als
wir die Einſattelung erreichten, wandten wir uns nun
nach rechts hinab anſtatt nach links hinüber, und das
Mädchen kannte das Terrain ſo genau und führte mich
ſo ſicher, daß wir bereits nach einer ſtarken Viertelſtunde
den Weg erreichten, der Lizan mit Schohrd verbindet.
Hier blieb ich ſtehen und ſagte:
„Nun kenne ich den Pfad; wir müſſen uns trennen.
Als ich heut hier herabgeſchleppt wurde, habe ich mir den
Weg genau angeſehen. Ich danke dir, Ingdſcha. Morgen
ſehen wir uns wieder. Gute Nacht!“
„Gute Nacht!“
Sie hatte meine Hand ergriffen und einen kaum fühl-
baren Kuß darauf gehaucht; dann eilte ſie wie ein ver-
ſcheuchtes Reh in das Dunkel der Nacht hinein. Ich
ſtand eine volle Minute lang bewegungslos, dann ſchlug
ich den Weg nach Lizan ein, während meine Gedanken
ſich — rückwärts nach Schohrd bewegten.
Ich mochte vielleicht die Hälfte der Strecke zurück-
gelegt haben, als ich den Hufſchlag eines Pferdes vor mir
erſchallen hörte. Ich trat zur Seite hinter einen Buſch,
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 598. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/612>, abgerufen am 25.11.2024.
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