"Ja. Er trägt nicht die Schuld von dem, was an- dere thaten. Der Melek hat ihm Gastfreundschaft ver- sprochen, und ich selbst werde nur dann Lizan verlassen, wenn er sich in Sicherheit an meiner Seite befindet."
Die Alte senkte nachdenklich den ergrauten Kopf. Dann fragte sie:
"So ist er dein Freund?"
"Ja. Ich bin sein Gast."
"Herr, das ist schlimm für dich!"
"Warum? Denkst du, daß der Melek sein Wort brechen wird?"
"Er bricht es nie," antwortete sie stolz. "Aber der Bey wird bis an seinen Tod hier gefangen bleiben, und da du ihn nicht verlassen willst, so wirst du deine Heimat niemals wiedersehen."
"Das steht in Gottes Hand. Weißt du, was der Melek über uns beschlossen hat? Sind wir nur auf dieses Haus beschränkt?"
"Du allein nicht, aber die andern sämtlich."
"So darf ich frei umhergehen?"
"Ja, wenn du dir einen Begleiter gefallen lässest. Du sollst nicht Gastfreundschaft wie sie, sondern Gast- freiheit erhalten."
"So werde ich jetzt einmal mit dem Melek sprechen. Darf ich dich geleiten?"
"O Herr, dein Herz ist voller Güte. Ja, führe mich, damit ich rühmen kann, daß mir noch niemals solche Gnade widerfahren ist!"
Sie erhob sich mit mir und hing sich an meinen Arm. Wir verließen das luftige Gemach und stiegen die Treppe nieder, die in das untere Geschoß führte. Hier trennte sich die Alte von mir, und ich trat hinaus auf den freien Raum vor dem Hause, wo eine große Anzahl der Chal-
„Ja. Er trägt nicht die Schuld von dem, was an- dere thaten. Der Melek hat ihm Gaſtfreundſchaft ver- ſprochen, und ich ſelbſt werde nur dann Lizan verlaſſen, wenn er ſich in Sicherheit an meiner Seite befindet.“
Die Alte ſenkte nachdenklich den ergrauten Kopf. Dann fragte ſie:
„So iſt er dein Freund?“
„Ja. Ich bin ſein Gaſt.“
„Herr, das iſt ſchlimm für dich!“
„Warum? Denkſt du, daß der Melek ſein Wort brechen wird?“
„Er bricht es nie,“ antwortete ſie ſtolz. „Aber der Bey wird bis an ſeinen Tod hier gefangen bleiben, und da du ihn nicht verlaſſen willſt, ſo wirſt du deine Heimat niemals wiederſehen.“
„Das ſteht in Gottes Hand. Weißt du, was der Melek über uns beſchloſſen hat? Sind wir nur auf dieſes Haus beſchränkt?“
„Du allein nicht, aber die andern ſämtlich.“
„So darf ich frei umhergehen?“
„Ja, wenn du dir einen Begleiter gefallen läſſeſt. Du ſollſt nicht Gaſtfreundſchaft wie ſie, ſondern Gaſt- freiheit erhalten.“
„So werde ich jetzt einmal mit dem Melek ſprechen. Darf ich dich geleiten?“
„O Herr, dein Herz iſt voller Güte. Ja, führe mich, damit ich rühmen kann, daß mir noch niemals ſolche Gnade widerfahren iſt!“
Sie erhob ſich mit mir und hing ſich an meinen Arm. Wir verließen das luftige Gemach und ſtiegen die Treppe nieder, die in das untere Geſchoß führte. Hier trennte ſich die Alte von mir, und ich trat hinaus auf den freien Raum vor dem Hauſe, wo eine große Anzahl der Chal-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0533"n="519"/><p>„Ja. Er trägt nicht die Schuld von dem, was an-<lb/>
dere thaten. Der Melek hat ihm Gaſtfreundſchaft ver-<lb/>ſprochen, und ich ſelbſt werde nur dann Lizan verlaſſen,<lb/>
wenn er ſich in Sicherheit an meiner Seite befindet.“</p><lb/><p>Die Alte ſenkte nachdenklich den ergrauten Kopf.<lb/>
Dann fragte ſie:</p><lb/><p>„So iſt er dein Freund?“</p><lb/><p>„Ja. Ich bin ſein Gaſt.“</p><lb/><p>„Herr, das iſt ſchlimm für dich!“</p><lb/><p>„Warum? Denkſt du, daß der Melek ſein Wort<lb/>
brechen wird?“</p><lb/><p>„Er bricht es nie,“ antwortete ſie ſtolz. „Aber der<lb/>
Bey wird bis an ſeinen Tod hier gefangen bleiben, und<lb/>
da du ihn nicht verlaſſen willſt, ſo wirſt du deine Heimat<lb/>
niemals wiederſehen.“</p><lb/><p>„Das ſteht in Gottes Hand. Weißt du, was der<lb/>
Melek über uns beſchloſſen hat? Sind wir nur auf dieſes<lb/>
Haus beſchränkt?“</p><lb/><p>„Du allein nicht, aber die andern ſämtlich.“</p><lb/><p>„So darf ich frei umhergehen?“</p><lb/><p>„Ja, wenn du dir einen Begleiter gefallen läſſeſt.<lb/>
Du ſollſt nicht Gaſtfreundſchaft wie ſie, ſondern Gaſt-<lb/>
freiheit erhalten.“</p><lb/><p>„So werde ich jetzt einmal mit dem Melek ſprechen.<lb/>
Darf ich dich geleiten?“</p><lb/><p>„O Herr, dein Herz iſt voller Güte. Ja, führe mich,<lb/>
damit ich rühmen kann, daß mir noch niemals ſolche<lb/>
Gnade widerfahren iſt!“</p><lb/><p>Sie erhob ſich mit mir und hing ſich an meinen Arm.<lb/>
Wir verließen das luftige Gemach und ſtiegen die Treppe<lb/>
nieder, die in das untere Geſchoß führte. Hier trennte<lb/>ſich die Alte von mir, und ich trat hinaus auf den freien<lb/>
Raum vor dem Hauſe, wo eine große Anzahl der Chal-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[519/0533]
„Ja. Er trägt nicht die Schuld von dem, was an-
dere thaten. Der Melek hat ihm Gaſtfreundſchaft ver-
ſprochen, und ich ſelbſt werde nur dann Lizan verlaſſen,
wenn er ſich in Sicherheit an meiner Seite befindet.“
Die Alte ſenkte nachdenklich den ergrauten Kopf.
Dann fragte ſie:
„So iſt er dein Freund?“
„Ja. Ich bin ſein Gaſt.“
„Herr, das iſt ſchlimm für dich!“
„Warum? Denkſt du, daß der Melek ſein Wort
brechen wird?“
„Er bricht es nie,“ antwortete ſie ſtolz. „Aber der
Bey wird bis an ſeinen Tod hier gefangen bleiben, und
da du ihn nicht verlaſſen willſt, ſo wirſt du deine Heimat
niemals wiederſehen.“
„Das ſteht in Gottes Hand. Weißt du, was der
Melek über uns beſchloſſen hat? Sind wir nur auf dieſes
Haus beſchränkt?“
„Du allein nicht, aber die andern ſämtlich.“
„So darf ich frei umhergehen?“
„Ja, wenn du dir einen Begleiter gefallen läſſeſt.
Du ſollſt nicht Gaſtfreundſchaft wie ſie, ſondern Gaſt-
freiheit erhalten.“
„So werde ich jetzt einmal mit dem Melek ſprechen.
Darf ich dich geleiten?“
„O Herr, dein Herz iſt voller Güte. Ja, führe mich,
damit ich rühmen kann, daß mir noch niemals ſolche
Gnade widerfahren iſt!“
Sie erhob ſich mit mir und hing ſich an meinen Arm.
Wir verließen das luftige Gemach und ſtiegen die Treppe
nieder, die in das untere Geſchoß führte. Hier trennte
ſich die Alte von mir, und ich trat hinaus auf den freien
Raum vor dem Hauſe, wo eine große Anzahl der Chal-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 519. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/533>, abgerufen am 23.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.