Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

Bild:
<< vorherige Seite

"Vorsichtig!" warnte ich. "Das Thal ist breit und
offen. Wenn der Feind grad jetzt zurückkehrt, wird er
uns bemerken; dann ist es aus mit uns."

"Geht mich nichts an! Müssen den Unserigen helfen!"

"Sie werden uns jetzt nicht mehr brauchen!"

Er aber ließ sich nicht halten, und ich war gezwun-
gen, ihm auf dem offenen Terrain zu folgen, während ich
mich lieber unter den Schutz der Bäume zurückgezogen hätte.

Weit unten machte das Thal eine Krümmung. Die
innere Ecke derselben stieß beinahe bis an das Ufer des
Baches heran und hinderte uns, weiter zu sehen. Unweit
davon lag ein nackter Leichnam. Es war ein toter Kurde;
das sah man an dem Haarbüschel. Wir bogen um die
Ecke. Kaum aber hatten wir hundert Schritte gemacht,
so raschelte es in den Bäumen und Sträuchern der Thal-
wand, und wir sahen uns augenblicklich von einer Menge
bewaffneter Gestalten umringt. Zwei von ihnen hielten
die Zügel meines Pferdes, und mehrere faßten mich an
den Beinen und am Arme, um mich an der Gegenwehr
zu verhindern. So ging es auch dem Engländer, der in
einem solchen Knäuel von Feinden stak, daß sein Pferd
sich kaum zu bewegen vermochte. Er wurde angerufen,
konnte aber nichts verstehen und deutete auf mich.

"Wer seid ihr?" fragte mich einer.

"Wir sind Freunde der Nestorah. Was wollt ihr
von uns?"

"Wir sind keine Nestorah. So nennen uns nur unsere
Feinde und Bedrücker. Wir sind Chaldäer. Aber ihr seid
Kurden?"

"Wir beide sind weder Kurden, noch Türken, noch
Araber. Wir tragen nur die Tracht dieses Landes. Wir
sind Feringhis *)."

*) Fremde.

„Vorſichtig!“ warnte ich. „Das Thal iſt breit und
offen. Wenn der Feind grad jetzt zurückkehrt, wird er
uns bemerken; dann iſt es aus mit uns.“

„Geht mich nichts an! Müſſen den Unſerigen helfen!“

„Sie werden uns jetzt nicht mehr brauchen!“

Er aber ließ ſich nicht halten, und ich war gezwun-
gen, ihm auf dem offenen Terrain zu folgen, während ich
mich lieber unter den Schutz der Bäume zurückgezogen hätte.

Weit unten machte das Thal eine Krümmung. Die
innere Ecke derſelben ſtieß beinahe bis an das Ufer des
Baches heran und hinderte uns, weiter zu ſehen. Unweit
davon lag ein nackter Leichnam. Es war ein toter Kurde;
das ſah man an dem Haarbüſchel. Wir bogen um die
Ecke. Kaum aber hatten wir hundert Schritte gemacht,
ſo raſchelte es in den Bäumen und Sträuchern der Thal-
wand, und wir ſahen uns augenblicklich von einer Menge
bewaffneter Geſtalten umringt. Zwei von ihnen hielten
die Zügel meines Pferdes, und mehrere faßten mich an
den Beinen und am Arme, um mich an der Gegenwehr
zu verhindern. So ging es auch dem Engländer, der in
einem ſolchen Knäuel von Feinden ſtak, daß ſein Pferd
ſich kaum zu bewegen vermochte. Er wurde angerufen,
konnte aber nichts verſtehen und deutete auf mich.

„Wer ſeid ihr?“ fragte mich einer.

„Wir ſind Freunde der Neſtorah. Was wollt ihr
von uns?“

„Wir ſind keine Neſtorah. So nennen uns nur unſere
Feinde und Bedrücker. Wir ſind Chaldäer. Aber ihr ſeid
Kurden?“

„Wir beide ſind weder Kurden, noch Türken, noch
Araber. Wir tragen nur die Tracht dieſes Landes. Wir
ſind Feringhis *).“

*) Fremde.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0487" n="473"/>
        <p>&#x201E;Vor&#x017F;ichtig!&#x201C; warnte ich. &#x201E;Das Thal i&#x017F;t breit und<lb/>
offen. Wenn der Feind grad jetzt zurückkehrt, wird er<lb/>
uns bemerken; dann i&#x017F;t es aus mit uns.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Geht mich nichts an! Mü&#x017F;&#x017F;en den Un&#x017F;erigen helfen!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Sie werden uns jetzt nicht mehr brauchen!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Er aber ließ &#x017F;ich nicht halten, und ich war gezwun-<lb/>
gen, ihm auf dem offenen Terrain zu folgen, während ich<lb/>
mich lieber unter den Schutz der Bäume zurückgezogen hätte.</p><lb/>
        <p>Weit unten machte das Thal eine Krümmung. Die<lb/>
innere Ecke der&#x017F;elben &#x017F;tieß beinahe bis an das Ufer des<lb/>
Baches heran und hinderte uns, weiter zu &#x017F;ehen. Unweit<lb/>
davon lag ein nackter Leichnam. Es war ein toter Kurde;<lb/>
das &#x017F;ah man an dem Haarbü&#x017F;chel. Wir bogen um die<lb/>
Ecke. Kaum aber hatten wir hundert Schritte gemacht,<lb/>
&#x017F;o ra&#x017F;chelte es in den Bäumen und Sträuchern der Thal-<lb/>
wand, und wir &#x017F;ahen uns augenblicklich von einer Menge<lb/>
bewaffneter Ge&#x017F;talten umringt. Zwei von ihnen hielten<lb/>
die Zügel meines Pferdes, und mehrere faßten mich an<lb/>
den Beinen und am Arme, um mich an der Gegenwehr<lb/>
zu verhindern. So ging es auch dem Engländer, der in<lb/>
einem &#x017F;olchen Knäuel von Feinden &#x017F;tak, daß &#x017F;ein Pferd<lb/>
&#x017F;ich kaum zu bewegen vermochte. Er wurde angerufen,<lb/>
konnte aber nichts ver&#x017F;tehen und deutete auf mich.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wer &#x017F;eid ihr?&#x201C; fragte mich einer.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wir &#x017F;ind Freunde der Ne&#x017F;torah. Was wollt ihr<lb/>
von uns?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wir &#x017F;ind keine Ne&#x017F;torah. So nennen uns nur un&#x017F;ere<lb/>
Feinde und Bedrücker. Wir &#x017F;ind Chaldäer. Aber ihr &#x017F;eid<lb/>
Kurden?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wir beide &#x017F;ind weder Kurden, noch Türken, noch<lb/>
Araber. Wir tragen nur die Tracht die&#x017F;es Landes. Wir<lb/>
&#x017F;ind Feringhis <note place="foot" n="*)">Fremde.</note>.&#x201C;</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[473/0487] „Vorſichtig!“ warnte ich. „Das Thal iſt breit und offen. Wenn der Feind grad jetzt zurückkehrt, wird er uns bemerken; dann iſt es aus mit uns.“ „Geht mich nichts an! Müſſen den Unſerigen helfen!“ „Sie werden uns jetzt nicht mehr brauchen!“ Er aber ließ ſich nicht halten, und ich war gezwun- gen, ihm auf dem offenen Terrain zu folgen, während ich mich lieber unter den Schutz der Bäume zurückgezogen hätte. Weit unten machte das Thal eine Krümmung. Die innere Ecke derſelben ſtieß beinahe bis an das Ufer des Baches heran und hinderte uns, weiter zu ſehen. Unweit davon lag ein nackter Leichnam. Es war ein toter Kurde; das ſah man an dem Haarbüſchel. Wir bogen um die Ecke. Kaum aber hatten wir hundert Schritte gemacht, ſo raſchelte es in den Bäumen und Sträuchern der Thal- wand, und wir ſahen uns augenblicklich von einer Menge bewaffneter Geſtalten umringt. Zwei von ihnen hielten die Zügel meines Pferdes, und mehrere faßten mich an den Beinen und am Arme, um mich an der Gegenwehr zu verhindern. So ging es auch dem Engländer, der in einem ſolchen Knäuel von Feinden ſtak, daß ſein Pferd ſich kaum zu bewegen vermochte. Er wurde angerufen, konnte aber nichts verſtehen und deutete auf mich. „Wer ſeid ihr?“ fragte mich einer. „Wir ſind Freunde der Neſtorah. Was wollt ihr von uns?“ „Wir ſind keine Neſtorah. So nennen uns nur unſere Feinde und Bedrücker. Wir ſind Chaldäer. Aber ihr ſeid Kurden?“ „Wir beide ſind weder Kurden, noch Türken, noch Araber. Wir tragen nur die Tracht dieſes Landes. Wir ſind Feringhis *).“ *) Fremde.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/487
Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/487>, abgerufen am 11.05.2024.