erste, der nach seiner Flinte, nach seiner Lanze oder nach seinem Messer griffe, wäre auch der erste, welcher sterben müßte. Versuchtet ihr aber keine Gegenwehr, so würden wir euch nichts zuleide thun, sondern in Frieden mit euch reden."
"Das alles könnt ihr nicht, denn ihr seid an den Baum gebunden."
"Du hast recht; aber wenn wir wollten, würden wir bald frei sein," antwortete ich in einem ruhigen, erklären- den Tone. "Dieser Strick geht nur um unsern Leib und um den Baum. Ich würde meinem Gefährten diese beiden kleinen Gewehre geben, so wie ich jetzt thue; dann nähme ich dein Messer, und ein einziger Schnitt mit demselben zertrennt den Strick, und wir sind frei. Siehest du wohl?"
Grad so, wie ich gesprochen, hatte ich es auch gethan. Ich stand aufrecht am Baume mit dem Stutzen, Lindsay neben mir mit den Revolvern. Er nickte mir mit seinem breitesten Lächeln zu, gespannt auf alles, was ich that, da er meine Worte nicht verstehen konnte.
"Du bist ein kluger Mann," sagte der Anführer; "aber diesen Strick brauchtest du uns nicht zu ruinieren. Setze dich wieder nieder, und erkläre uns auch die beiden kleinen Gewehre!"
"Ich habe dir bereits zweimal gesagt, daß man das nicht erklären, sondern zeigen muß. Und zeigen werde ich es euch, wenn ihr nicht das thut, was ich von euch ver- lange."
Jetzt endlich begann ihm klar zu werden, daß ich Ernst machte. Er stand auf, und auch die andern erhoben sich, nach ihren Waffen greifend.
"Was verlangst du?" fragte er drohend.
"Höre mich ruhig an! Wir sind keine gewöhnlichen Krieger, sondern Emire, denen man Achtung schuldig ist,
erſte, der nach ſeiner Flinte, nach ſeiner Lanze oder nach ſeinem Meſſer griffe, wäre auch der erſte, welcher ſterben müßte. Verſuchtet ihr aber keine Gegenwehr, ſo würden wir euch nichts zuleide thun, ſondern in Frieden mit euch reden.“
„Das alles könnt ihr nicht, denn ihr ſeid an den Baum gebunden.“
„Du haſt recht; aber wenn wir wollten, würden wir bald frei ſein,“ antwortete ich in einem ruhigen, erklären- den Tone. „Dieſer Strick geht nur um unſern Leib und um den Baum. Ich würde meinem Gefährten dieſe beiden kleinen Gewehre geben, ſo wie ich jetzt thue; dann nähme ich dein Meſſer, und ein einziger Schnitt mit demſelben zertrennt den Strick, und wir ſind frei. Sieheſt du wohl?“
Grad ſo, wie ich geſprochen, hatte ich es auch gethan. Ich ſtand aufrecht am Baume mit dem Stutzen, Lindſay neben mir mit den Revolvern. Er nickte mir mit ſeinem breiteſten Lächeln zu, geſpannt auf alles, was ich that, da er meine Worte nicht verſtehen konnte.
„Du biſt ein kluger Mann,“ ſagte der Anführer; „aber dieſen Strick brauchteſt du uns nicht zu ruinieren. Setze dich wieder nieder, und erkläre uns auch die beiden kleinen Gewehre!“
„Ich habe dir bereits zweimal geſagt, daß man das nicht erklären, ſondern zeigen muß. Und zeigen werde ich es euch, wenn ihr nicht das thut, was ich von euch ver- lange.“
Jetzt endlich begann ihm klar zu werden, daß ich Ernſt machte. Er ſtand auf, und auch die andern erhoben ſich, nach ihren Waffen greifend.
„Was verlangſt du?“ fragte er drohend.
„Höre mich ruhig an! Wir ſind keine gewöhnlichen Krieger, ſondern Emire, denen man Achtung ſchuldig iſt,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0476"n="462"/>
erſte, der nach ſeiner Flinte, nach ſeiner Lanze oder nach<lb/>ſeinem Meſſer griffe, wäre auch der erſte, welcher ſterben<lb/>
müßte. Verſuchtet ihr aber keine Gegenwehr, ſo würden<lb/>
wir euch nichts zuleide thun, ſondern in Frieden mit<lb/>
euch reden.“</p><lb/><p>„Das alles könnt ihr nicht, denn ihr ſeid an den<lb/>
Baum gebunden.“</p><lb/><p>„Du haſt recht; aber wenn wir wollten, würden wir<lb/>
bald frei ſein,“ antwortete ich in einem ruhigen, erklären-<lb/>
den Tone. „Dieſer Strick geht nur um unſern Leib und<lb/>
um den Baum. Ich würde meinem Gefährten dieſe beiden<lb/>
kleinen Gewehre geben, ſo wie ich jetzt thue; dann nähme<lb/>
ich dein Meſſer, und ein einziger Schnitt mit demſelben<lb/>
zertrennt den Strick, und wir ſind frei. Sieheſt du wohl?“</p><lb/><p>Grad ſo, wie ich geſprochen, hatte ich es auch gethan.<lb/>
Ich ſtand aufrecht am Baume mit dem Stutzen, Lindſay<lb/>
neben mir mit den Revolvern. Er nickte mir mit ſeinem<lb/>
breiteſten Lächeln zu, geſpannt auf alles, was ich that, da<lb/>
er meine Worte nicht verſtehen konnte.</p><lb/><p>„Du biſt ein kluger Mann,“ſagte der Anführer;<lb/>„aber dieſen Strick brauchteſt du uns nicht zu ruinieren.<lb/>
Setze dich wieder nieder, und erkläre uns auch die beiden<lb/>
kleinen Gewehre!“</p><lb/><p>„Ich habe dir bereits zweimal geſagt, daß man das<lb/>
nicht erklären, ſondern zeigen muß. Und zeigen werde ich<lb/>
es euch, wenn ihr nicht das thut, was ich von euch ver-<lb/>
lange.“</p><lb/><p>Jetzt endlich begann ihm klar zu werden, daß ich<lb/>
Ernſt machte. Er ſtand auf, und auch die andern erhoben<lb/>ſich, nach ihren Waffen greifend.</p><lb/><p>„Was verlangſt du?“ fragte er drohend.</p><lb/><p>„Höre mich ruhig an! Wir ſind keine gewöhnlichen<lb/>
Krieger, ſondern Emire, denen man Achtung ſchuldig iſt,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[462/0476]
erſte, der nach ſeiner Flinte, nach ſeiner Lanze oder nach
ſeinem Meſſer griffe, wäre auch der erſte, welcher ſterben
müßte. Verſuchtet ihr aber keine Gegenwehr, ſo würden
wir euch nichts zuleide thun, ſondern in Frieden mit
euch reden.“
„Das alles könnt ihr nicht, denn ihr ſeid an den
Baum gebunden.“
„Du haſt recht; aber wenn wir wollten, würden wir
bald frei ſein,“ antwortete ich in einem ruhigen, erklären-
den Tone. „Dieſer Strick geht nur um unſern Leib und
um den Baum. Ich würde meinem Gefährten dieſe beiden
kleinen Gewehre geben, ſo wie ich jetzt thue; dann nähme
ich dein Meſſer, und ein einziger Schnitt mit demſelben
zertrennt den Strick, und wir ſind frei. Sieheſt du wohl?“
Grad ſo, wie ich geſprochen, hatte ich es auch gethan.
Ich ſtand aufrecht am Baume mit dem Stutzen, Lindſay
neben mir mit den Revolvern. Er nickte mir mit ſeinem
breiteſten Lächeln zu, geſpannt auf alles, was ich that, da
er meine Worte nicht verſtehen konnte.
„Du biſt ein kluger Mann,“ ſagte der Anführer;
„aber dieſen Strick brauchteſt du uns nicht zu ruinieren.
Setze dich wieder nieder, und erkläre uns auch die beiden
kleinen Gewehre!“
„Ich habe dir bereits zweimal geſagt, daß man das
nicht erklären, ſondern zeigen muß. Und zeigen werde ich
es euch, wenn ihr nicht das thut, was ich von euch ver-
lange.“
Jetzt endlich begann ihm klar zu werden, daß ich
Ernſt machte. Er ſtand auf, und auch die andern erhoben
ſich, nach ihren Waffen greifend.
„Was verlangſt du?“ fragte er drohend.
„Höre mich ruhig an! Wir ſind keine gewöhnlichen
Krieger, ſondern Emire, denen man Achtung ſchuldig iſt,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/476>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.