Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

Bild:
<< vorherige Seite

erste, der nach seiner Flinte, nach seiner Lanze oder nach
seinem Messer griffe, wäre auch der erste, welcher sterben
müßte. Versuchtet ihr aber keine Gegenwehr, so würden
wir euch nichts zuleide thun, sondern in Frieden mit
euch reden."

"Das alles könnt ihr nicht, denn ihr seid an den
Baum gebunden."

"Du hast recht; aber wenn wir wollten, würden wir
bald frei sein," antwortete ich in einem ruhigen, erklären-
den Tone. "Dieser Strick geht nur um unsern Leib und
um den Baum. Ich würde meinem Gefährten diese beiden
kleinen Gewehre geben, so wie ich jetzt thue; dann nähme
ich dein Messer, und ein einziger Schnitt mit demselben
zertrennt den Strick, und wir sind frei. Siehest du wohl?"

Grad so, wie ich gesprochen, hatte ich es auch gethan.
Ich stand aufrecht am Baume mit dem Stutzen, Lindsay
neben mir mit den Revolvern. Er nickte mir mit seinem
breitesten Lächeln zu, gespannt auf alles, was ich that, da
er meine Worte nicht verstehen konnte.

"Du bist ein kluger Mann," sagte der Anführer;
"aber diesen Strick brauchtest du uns nicht zu ruinieren.
Setze dich wieder nieder, und erkläre uns auch die beiden
kleinen Gewehre!"

"Ich habe dir bereits zweimal gesagt, daß man das
nicht erklären, sondern zeigen muß. Und zeigen werde ich
es euch, wenn ihr nicht das thut, was ich von euch ver-
lange."

Jetzt endlich begann ihm klar zu werden, daß ich
Ernst machte. Er stand auf, und auch die andern erhoben
sich, nach ihren Waffen greifend.

"Was verlangst du?" fragte er drohend.

"Höre mich ruhig an! Wir sind keine gewöhnlichen
Krieger, sondern Emire, denen man Achtung schuldig ist,

erſte, der nach ſeiner Flinte, nach ſeiner Lanze oder nach
ſeinem Meſſer griffe, wäre auch der erſte, welcher ſterben
müßte. Verſuchtet ihr aber keine Gegenwehr, ſo würden
wir euch nichts zuleide thun, ſondern in Frieden mit
euch reden.“

„Das alles könnt ihr nicht, denn ihr ſeid an den
Baum gebunden.“

„Du haſt recht; aber wenn wir wollten, würden wir
bald frei ſein,“ antwortete ich in einem ruhigen, erklären-
den Tone. „Dieſer Strick geht nur um unſern Leib und
um den Baum. Ich würde meinem Gefährten dieſe beiden
kleinen Gewehre geben, ſo wie ich jetzt thue; dann nähme
ich dein Meſſer, und ein einziger Schnitt mit demſelben
zertrennt den Strick, und wir ſind frei. Sieheſt du wohl?“

Grad ſo, wie ich geſprochen, hatte ich es auch gethan.
Ich ſtand aufrecht am Baume mit dem Stutzen, Lindſay
neben mir mit den Revolvern. Er nickte mir mit ſeinem
breiteſten Lächeln zu, geſpannt auf alles, was ich that, da
er meine Worte nicht verſtehen konnte.

„Du biſt ein kluger Mann,“ ſagte der Anführer;
„aber dieſen Strick brauchteſt du uns nicht zu ruinieren.
Setze dich wieder nieder, und erkläre uns auch die beiden
kleinen Gewehre!“

„Ich habe dir bereits zweimal geſagt, daß man das
nicht erklären, ſondern zeigen muß. Und zeigen werde ich
es euch, wenn ihr nicht das thut, was ich von euch ver-
lange.“

Jetzt endlich begann ihm klar zu werden, daß ich
Ernſt machte. Er ſtand auf, und auch die andern erhoben
ſich, nach ihren Waffen greifend.

„Was verlangſt du?“ fragte er drohend.

„Höre mich ruhig an! Wir ſind keine gewöhnlichen
Krieger, ſondern Emire, denen man Achtung ſchuldig iſt,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0476" n="462"/>
er&#x017F;te, der nach &#x017F;einer Flinte, nach &#x017F;einer Lanze oder nach<lb/>
&#x017F;einem Me&#x017F;&#x017F;er griffe, wäre auch der er&#x017F;te, welcher &#x017F;terben<lb/>
müßte. Ver&#x017F;uchtet ihr aber keine Gegenwehr, &#x017F;o würden<lb/>
wir euch nichts zuleide thun, &#x017F;ondern in Frieden mit<lb/>
euch reden.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Das alles könnt ihr nicht, denn ihr &#x017F;eid an den<lb/>
Baum gebunden.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Du ha&#x017F;t recht; aber wenn wir wollten, würden wir<lb/>
bald frei &#x017F;ein,&#x201C; antwortete ich in einem ruhigen, erklären-<lb/>
den Tone. &#x201E;Die&#x017F;er Strick geht nur um un&#x017F;ern Leib und<lb/>
um den Baum. Ich würde meinem Gefährten die&#x017F;e beiden<lb/>
kleinen Gewehre geben, &#x017F;o wie ich jetzt thue; dann nähme<lb/>
ich dein Me&#x017F;&#x017F;er, und ein einziger Schnitt mit dem&#x017F;elben<lb/>
zertrennt den Strick, und wir &#x017F;ind frei. Siehe&#x017F;t du wohl?&#x201C;</p><lb/>
        <p>Grad &#x017F;o, wie ich ge&#x017F;prochen, hatte ich es auch gethan.<lb/>
Ich &#x017F;tand aufrecht am Baume mit dem Stutzen, Lind&#x017F;ay<lb/>
neben mir mit den Revolvern. Er nickte mir mit &#x017F;einem<lb/>
breite&#x017F;ten Lächeln zu, ge&#x017F;pannt auf alles, was ich that, da<lb/>
er meine Worte nicht ver&#x017F;tehen konnte.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Du bi&#x017F;t ein kluger Mann,&#x201C; &#x017F;agte der Anführer;<lb/>
&#x201E;aber die&#x017F;en Strick brauchte&#x017F;t du uns nicht zu ruinieren.<lb/>
Setze dich wieder nieder, und erkläre uns auch die beiden<lb/>
kleinen Gewehre!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ich habe dir bereits zweimal ge&#x017F;agt, daß man das<lb/>
nicht erklären, &#x017F;ondern zeigen muß. Und zeigen werde ich<lb/>
es euch, wenn ihr nicht das thut, was ich von euch ver-<lb/>
lange.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Jetzt endlich begann ihm klar zu werden, daß ich<lb/>
Ern&#x017F;t machte. Er &#x017F;tand auf, und auch die andern erhoben<lb/>
&#x017F;ich, nach ihren Waffen greifend.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Was verlang&#x017F;t du?&#x201C; fragte er drohend.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Höre mich ruhig an! Wir &#x017F;ind keine gewöhnlichen<lb/>
Krieger, &#x017F;ondern Emire, denen man Achtung &#x017F;chuldig i&#x017F;t,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[462/0476] erſte, der nach ſeiner Flinte, nach ſeiner Lanze oder nach ſeinem Meſſer griffe, wäre auch der erſte, welcher ſterben müßte. Verſuchtet ihr aber keine Gegenwehr, ſo würden wir euch nichts zuleide thun, ſondern in Frieden mit euch reden.“ „Das alles könnt ihr nicht, denn ihr ſeid an den Baum gebunden.“ „Du haſt recht; aber wenn wir wollten, würden wir bald frei ſein,“ antwortete ich in einem ruhigen, erklären- den Tone. „Dieſer Strick geht nur um unſern Leib und um den Baum. Ich würde meinem Gefährten dieſe beiden kleinen Gewehre geben, ſo wie ich jetzt thue; dann nähme ich dein Meſſer, und ein einziger Schnitt mit demſelben zertrennt den Strick, und wir ſind frei. Sieheſt du wohl?“ Grad ſo, wie ich geſprochen, hatte ich es auch gethan. Ich ſtand aufrecht am Baume mit dem Stutzen, Lindſay neben mir mit den Revolvern. Er nickte mir mit ſeinem breiteſten Lächeln zu, geſpannt auf alles, was ich that, da er meine Worte nicht verſtehen konnte. „Du biſt ein kluger Mann,“ ſagte der Anführer; „aber dieſen Strick brauchteſt du uns nicht zu ruinieren. Setze dich wieder nieder, und erkläre uns auch die beiden kleinen Gewehre!“ „Ich habe dir bereits zweimal geſagt, daß man das nicht erklären, ſondern zeigen muß. Und zeigen werde ich es euch, wenn ihr nicht das thut, was ich von euch ver- lange.“ Jetzt endlich begann ihm klar zu werden, daß ich Ernſt machte. Er ſtand auf, und auch die andern erhoben ſich, nach ihren Waffen greifend. „Was verlangſt du?“ fragte er drohend. „Höre mich ruhig an! Wir ſind keine gewöhnlichen Krieger, ſondern Emire, denen man Achtung ſchuldig iſt,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/476
Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/476>, abgerufen am 11.05.2024.