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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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"Ich habe keine Lust dazu!"

"Laß wenigstens mich hinauf!"

"Ich erlaube es dir, denn du bist kein Dieb und
kommst erst zu mir, um mich darum zu fragen. Aber hüte
dich vor dem Hunde! Wenn er dich bemerkt, wird er
dich fassen und vorher den andern totbeißen, falls schon
einer oben ist."

"Ich habe Waffen!" meinte er.

"Er ist schneller als du, und töten darfst du ihn ja
nicht; denn du müßtest ein reicher Mann sein, um ihn
mir bezahlen zu können!"

"Chodih, gehe mit hinauf! Ich bin der Nezanum,
und meine Pflicht gebietet mir, nachzusehen."

"Wenn du deines Amtes zu walten hast, so werde
ich dir diesen Gefallen erweisen. Komm herauf!"

Ich stieg voran, und er folgte. Droben angekommen,
sah er sich um und bemerkte den Toten. Unten standen
noch ebenso viele Leute, als ich vorhin gesehen hatte.

"Chodih, hier liegt einer!" rief er.

Ich trat hinzu. Er bückte sich und befühlte den
Mann.

"Sere men*), er ist tot! Oh, Herr, was hat dein
Hund gethan!"

"Seine Pflicht. Klage nicht über ihn, sondern lobe
ihn. Dieser Mann hat wohl den Besitzer dieses Hauses
überfallen wollen und nicht geahnt, daß heute Leute hier
wohnen, die sich von keinem Diebe oder Mörder über-
fallen lassen."

"Aber wo ist der Hund?" fragte er. Ich wies auf
die Stelle, und er rief aus:

"Oh, Chodih, es liegt einer unter ihm! Rufe den
Hund weg!"

*) Bei meinem Haupte.

„Ich habe keine Luſt dazu!“

„Laß wenigſtens mich hinauf!“

„Ich erlaube es dir, denn du biſt kein Dieb und
kommſt erſt zu mir, um mich darum zu fragen. Aber hüte
dich vor dem Hunde! Wenn er dich bemerkt, wird er
dich faſſen und vorher den andern totbeißen, falls ſchon
einer oben iſt.“

„Ich habe Waffen!“ meinte er.

„Er iſt ſchneller als du, und töten darfſt du ihn ja
nicht; denn du müßteſt ein reicher Mann ſein, um ihn
mir bezahlen zu können!“

„Chodih, gehe mit hinauf! Ich bin der Nezanum,
und meine Pflicht gebietet mir, nachzuſehen.“

„Wenn du deines Amtes zu walten haſt, ſo werde
ich dir dieſen Gefallen erweiſen. Komm herauf!“

Ich ſtieg voran, und er folgte. Droben angekommen,
ſah er ſich um und bemerkte den Toten. Unten ſtanden
noch ebenſo viele Leute, als ich vorhin geſehen hatte.

„Chodih, hier liegt einer!“ rief er.

Ich trat hinzu. Er bückte ſich und befühlte den
Mann.

„Sere men*), er iſt tot! Oh, Herr, was hat dein
Hund gethan!“

„Seine Pflicht. Klage nicht über ihn, ſondern lobe
ihn. Dieſer Mann hat wohl den Beſitzer dieſes Hauſes
überfallen wollen und nicht geahnt, daß heute Leute hier
wohnen, die ſich von keinem Diebe oder Mörder über-
fallen laſſen.“

„Aber wo iſt der Hund?“ fragte er. Ich wies auf
die Stelle, und er rief aus:

„Oh, Chodih, es liegt einer unter ihm! Rufe den
Hund weg!“

*) Bei meinem Haupte.
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[396/0410] „Ich habe keine Luſt dazu!“ „Laß wenigſtens mich hinauf!“ „Ich erlaube es dir, denn du biſt kein Dieb und kommſt erſt zu mir, um mich darum zu fragen. Aber hüte dich vor dem Hunde! Wenn er dich bemerkt, wird er dich faſſen und vorher den andern totbeißen, falls ſchon einer oben iſt.“ „Ich habe Waffen!“ meinte er. „Er iſt ſchneller als du, und töten darfſt du ihn ja nicht; denn du müßteſt ein reicher Mann ſein, um ihn mir bezahlen zu können!“ „Chodih, gehe mit hinauf! Ich bin der Nezanum, und meine Pflicht gebietet mir, nachzuſehen.“ „Wenn du deines Amtes zu walten haſt, ſo werde ich dir dieſen Gefallen erweiſen. Komm herauf!“ Ich ſtieg voran, und er folgte. Droben angekommen, ſah er ſich um und bemerkte den Toten. Unten ſtanden noch ebenſo viele Leute, als ich vorhin geſehen hatte. „Chodih, hier liegt einer!“ rief er. Ich trat hinzu. Er bückte ſich und befühlte den Mann. „Sere men *), er iſt tot! Oh, Herr, was hat dein Hund gethan!“ „Seine Pflicht. Klage nicht über ihn, ſondern lobe ihn. Dieſer Mann hat wohl den Beſitzer dieſes Hauſes überfallen wollen und nicht geahnt, daß heute Leute hier wohnen, die ſich von keinem Diebe oder Mörder über- fallen laſſen.“ „Aber wo iſt der Hund?“ fragte er. Ich wies auf die Stelle, und er rief aus: „Oh, Chodih, es liegt einer unter ihm! Rufe den Hund weg!“ *) Bei meinem Haupte.

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/410>, abgerufen am 26.11.2024.