nicht. Bist du ein Grieche, oder ein Russe, oder ein Perser?"
Ich verneinte, und jetzt war er mit seinen Kennt- nissen zu Ende. Dieser Mann empfing mich ja wie ein russischer Grenzaufseher! Ich durfte nicht sagen, welchem Volke ich angehöre, sondern er wollte so scharfsinnig sein, es zu erraten. Da ihm dies nicht gelungen war, gab er vor Aerger seinem Pferde mit der Faust einen Schlag über das Auge, daß es vor Schmerz laut aufwieherte.
"Was bist du denn?" fragte er endlich.
"Ein Tschermaka *)," antwortete ich mit Stolz.
"Ein Tschermaka?" wiederholte er. "Die Tschermaki kenne ich. Ihr Stamm wohnt an den Ufern des Sees von Urmiah und hat elende Hütten von Schilf."
Diese Worte waren in einem sehr verächtlichen Tone gesprochen.
"Du irrst," entgegnete ich. "Die Tschermaki wohnen nicht am Ufer des Urmiahsees und wohnen auch nicht in elenden Schilfhütten."
"Schweig! Ich kenne die Tschermaki, und wenn du nicht weißt, wo sie wohnen, so gehörst du nicht zu ihnen. Wer ist der Kurde dort?" -- Und er deutete auf den Engländer.
"Es ist kein Kurde; er trägt nur kurdische Kleidung."
"Wenn er nur kurdische Kleidung trägt, so ist er ja kein Kurde!"
"Das habe ich ja bereits gesagt."
"Und wenn er kein Kurde ist, so darf er auch keine kurdische Kleidung tragen. Das verbieten wir ihm. Was ist er?"
"Ein Inglo," antwortete ich kurz.
"Ein Inglo? Ich kenne die Ingli. Sie wohnen
*) Deutscher.
nicht. Biſt du ein Grieche, oder ein Ruſſe, oder ein Perſer?“
Ich verneinte, und jetzt war er mit ſeinen Kennt- niſſen zu Ende. Dieſer Mann empfing mich ja wie ein ruſſiſcher Grenzaufſeher! Ich durfte nicht ſagen, welchem Volke ich angehöre, ſondern er wollte ſo ſcharfſinnig ſein, es zu erraten. Da ihm dies nicht gelungen war, gab er vor Aerger ſeinem Pferde mit der Fauſt einen Schlag über das Auge, daß es vor Schmerz laut aufwieherte.
„Was biſt du denn?“ fragte er endlich.
„Ein Tſchermaka *),“ antwortete ich mit Stolz.
„Ein Tſchermaka?“ wiederholte er. „Die Tſchermaki kenne ich. Ihr Stamm wohnt an den Ufern des Sees von Urmiah und hat elende Hütten von Schilf.“
Dieſe Worte waren in einem ſehr verächtlichen Tone geſprochen.
„Du irrſt,“ entgegnete ich. „Die Tſchermaki wohnen nicht am Ufer des Urmiahſees und wohnen auch nicht in elenden Schilfhütten.“
„Schweig! Ich kenne die Tſchermaki, und wenn du nicht weißt, wo ſie wohnen, ſo gehörſt du nicht zu ihnen. Wer iſt der Kurde dort?“ — Und er deutete auf den Engländer.
„Es iſt kein Kurde; er trägt nur kurdiſche Kleidung.“
„Wenn er nur kurdiſche Kleidung trägt, ſo iſt er ja kein Kurde!“
„Das habe ich ja bereits geſagt.“
„Und wenn er kein Kurde iſt, ſo darf er auch keine kurdiſche Kleidung tragen. Das verbieten wir ihm. Was iſt er?“
„Ein Inglo,“ antwortete ich kurz.
„Ein Inglo? Ich kenne die Ingli. Sie wohnen
*) Deutſcher.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0389"n="375"/>
nicht. Biſt du ein Grieche, oder ein Ruſſe, oder ein<lb/>
Perſer?“</p><lb/><p>Ich verneinte, und jetzt war er mit ſeinen Kennt-<lb/>
niſſen zu Ende. Dieſer Mann empfing mich ja wie ein<lb/>
ruſſiſcher Grenzaufſeher! Ich durfte nicht ſagen, welchem<lb/>
Volke ich angehöre, ſondern er wollte ſo ſcharfſinnig ſein,<lb/>
es zu erraten. Da ihm dies nicht gelungen war, gab er<lb/>
vor Aerger ſeinem Pferde mit der Fauſt einen Schlag<lb/>
über das Auge, daß es vor Schmerz laut aufwieherte.</p><lb/><p>„Was biſt du denn?“ fragte er endlich.</p><lb/><p>„Ein Tſchermaka <noteplace="foot"n="*)">Deutſcher.</note>,“ antwortete ich mit Stolz.</p><lb/><p>„Ein Tſchermaka?“ wiederholte er. „Die Tſchermaki<lb/>
kenne ich. Ihr Stamm wohnt an den Ufern des Sees<lb/>
von Urmiah und hat elende Hütten von Schilf.“</p><lb/><p>Dieſe Worte waren in einem ſehr verächtlichen Tone<lb/>
geſprochen.</p><lb/><p>„Du irrſt,“ entgegnete ich. „Die Tſchermaki wohnen<lb/>
nicht am Ufer des Urmiahſees und wohnen auch nicht in<lb/>
elenden Schilfhütten.“</p><lb/><p>„Schweig! Ich kenne die Tſchermaki, und wenn du<lb/>
nicht weißt, wo ſie wohnen, ſo gehörſt du nicht zu ihnen.<lb/>
Wer iſt der Kurde dort?“— Und er deutete auf den<lb/>
Engländer.</p><lb/><p>„Es iſt kein Kurde; er trägt nur kurdiſche Kleidung.“</p><lb/><p>„Wenn er nur kurdiſche Kleidung trägt, ſo iſt er ja<lb/>
kein Kurde!“</p><lb/><p>„Das habe ich ja bereits geſagt.“</p><lb/><p>„Und wenn er kein Kurde iſt, ſo darf er auch keine<lb/>
kurdiſche Kleidung tragen. Das verbieten wir ihm. Was<lb/>
iſt er?“</p><lb/><p>„Ein Inglo,“ antwortete ich kurz.</p><lb/><p>„Ein Inglo? Ich kenne die Ingli. Sie wohnen<lb/></p></div></body></text></TEI>
[375/0389]
nicht. Biſt du ein Grieche, oder ein Ruſſe, oder ein
Perſer?“
Ich verneinte, und jetzt war er mit ſeinen Kennt-
niſſen zu Ende. Dieſer Mann empfing mich ja wie ein
ruſſiſcher Grenzaufſeher! Ich durfte nicht ſagen, welchem
Volke ich angehöre, ſondern er wollte ſo ſcharfſinnig ſein,
es zu erraten. Da ihm dies nicht gelungen war, gab er
vor Aerger ſeinem Pferde mit der Fauſt einen Schlag
über das Auge, daß es vor Schmerz laut aufwieherte.
„Was biſt du denn?“ fragte er endlich.
„Ein Tſchermaka *),“ antwortete ich mit Stolz.
„Ein Tſchermaka?“ wiederholte er. „Die Tſchermaki
kenne ich. Ihr Stamm wohnt an den Ufern des Sees
von Urmiah und hat elende Hütten von Schilf.“
Dieſe Worte waren in einem ſehr verächtlichen Tone
geſprochen.
„Du irrſt,“ entgegnete ich. „Die Tſchermaki wohnen
nicht am Ufer des Urmiahſees und wohnen auch nicht in
elenden Schilfhütten.“
„Schweig! Ich kenne die Tſchermaki, und wenn du
nicht weißt, wo ſie wohnen, ſo gehörſt du nicht zu ihnen.
Wer iſt der Kurde dort?“ — Und er deutete auf den
Engländer.
„Es iſt kein Kurde; er trägt nur kurdiſche Kleidung.“
„Wenn er nur kurdiſche Kleidung trägt, ſo iſt er ja
kein Kurde!“
„Das habe ich ja bereits geſagt.“
„Und wenn er kein Kurde iſt, ſo darf er auch keine
kurdiſche Kleidung tragen. Das verbieten wir ihm. Was
iſt er?“
„Ein Inglo,“ antwortete ich kurz.
„Ein Inglo? Ich kenne die Ingli. Sie wohnen
*) Deutſcher.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/389>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.