widerfahren sein, was ihren Unmut erweckt hatte. Unter den gegenwärtigen Umständen konnte das kleinste Ereignis für mich Wert besitzen, und so trat ich ein. Mersinah hielt dem tapfern Agha eine Strafpredigt, das sah ich auf den ersten Blick. Sie stand mit drohend erhobenen Armen vor ihm, und er hielt die Augen niedergeschlagen wie ein Knabe, der von seinem Erzieher einen Verweis erhält. Sie sahen mich eintreten, und sofort bemächtigte sich die ,Myrte' meiner.
"Siehe dir einmal diesen Selim Agha an!"
Sie deutete mit gebieterischer Miene auf den armen Sünder, und ich machte mit meinem Kopfe eine Viertel- wendung nach rechts, um ihn pflichtschuldigst in Augen- schein zu nehmen.
"Ist dieser Mann ein Agha der Arnauten?" fragte sie nun.
"Ja."
Ich gab diese Antwort natürlich in dem Tone meiner festesten Ueberzeugung, aber grad dieser Ton schien einen Rückfall ihres Raptus über sie zu bringen.
"Was! Also auch du hältst ihn für einen Befehls- haber tapferer Krieger? Ich werde dir sagen, was er ist; ein Agha der Feiglinge ist er!"
Der Agha schlug die Augen auf und versuchte, einen verweisenden Blick zu stande zu bringen. Es gelang ihm leidlich.
"Erzürne mich nicht, Mersinah, denn du weißt, daß ich dann schrecklich bin!" sagte er dabei.
"Worüber seid ihr so ergrimmt?" wagte ich jetzt zu fragen.
"Ueber diese fünfzig Piaster!" antwortete die ,Myrte', indem sie mit der verächtlichsten ihrer Mienen auf die Erde deutete.
widerfahren ſein, was ihren Unmut erweckt hatte. Unter den gegenwärtigen Umſtänden konnte das kleinſte Ereignis für mich Wert beſitzen, und ſo trat ich ein. Merſinah hielt dem tapfern Agha eine Strafpredigt, das ſah ich auf den erſten Blick. Sie ſtand mit drohend erhobenen Armen vor ihm, und er hielt die Augen niedergeſchlagen wie ein Knabe, der von ſeinem Erzieher einen Verweis erhält. Sie ſahen mich eintreten, und ſofort bemächtigte ſich die ‚Myrte‘ meiner.
„Siehe dir einmal dieſen Selim Agha an!“
Sie deutete mit gebieteriſcher Miene auf den armen Sünder, und ich machte mit meinem Kopfe eine Viertel- wendung nach rechts, um ihn pflichtſchuldigſt in Augen- ſchein zu nehmen.
„Iſt dieſer Mann ein Agha der Arnauten?“ fragte ſie nun.
„Ja.“
Ich gab dieſe Antwort natürlich in dem Tone meiner feſteſten Ueberzeugung, aber grad dieſer Ton ſchien einen Rückfall ihres Raptus über ſie zu bringen.
„Was! Alſo auch du hältſt ihn für einen Befehls- haber tapferer Krieger? Ich werde dir ſagen, was er iſt; ein Agha der Feiglinge iſt er!“
Der Agha ſchlug die Augen auf und verſuchte, einen verweiſenden Blick zu ſtande zu bringen. Es gelang ihm leidlich.
„Erzürne mich nicht, Merſinah, denn du weißt, daß ich dann ſchrecklich bin!“ ſagte er dabei.
„Worüber ſeid ihr ſo ergrimmt?“ wagte ich jetzt zu fragen.
„Ueber dieſe fünfzig Piaſter!“ antwortete die ‚Myrte‘, indem ſie mit der verächtlichſten ihrer Mienen auf die Erde deutete.
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widerfahren ſein, was ihren Unmut erweckt hatte. Unter
den gegenwärtigen Umſtänden konnte das kleinſte Ereignis
für mich Wert beſitzen, und ſo trat ich ein. Merſinah
hielt dem tapfern Agha eine Strafpredigt, das ſah ich
auf den erſten Blick. Sie ſtand mit drohend erhobenen
Armen vor ihm, und er hielt die Augen niedergeſchlagen
wie ein Knabe, der von ſeinem Erzieher einen Verweis
erhält. Sie ſahen mich eintreten, und ſofort bemächtigte
ſich die ‚Myrte‘ meiner.
„Siehe dir einmal dieſen Selim Agha an!“
Sie deutete mit gebieteriſcher Miene auf den armen
Sünder, und ich machte mit meinem Kopfe eine Viertel-
wendung nach rechts, um ihn pflichtſchuldigſt in Augen-
ſchein zu nehmen.
„Iſt dieſer Mann ein Agha der Arnauten?“ fragte
ſie nun.
„Ja.“
Ich gab dieſe Antwort natürlich in dem Tone meiner
feſteſten Ueberzeugung, aber grad dieſer Ton ſchien einen
Rückfall ihres Raptus über ſie zu bringen.
„Was! Alſo auch du hältſt ihn für einen Befehls-
haber tapferer Krieger? Ich werde dir ſagen, was er
iſt; ein Agha der Feiglinge iſt er!“
Der Agha ſchlug die Augen auf und verſuchte, einen
verweiſenden Blick zu ſtande zu bringen. Es gelang
ihm leidlich.
„Erzürne mich nicht, Merſinah, denn du weißt, daß
ich dann ſchrecklich bin!“ ſagte er dabei.
„Worüber ſeid ihr ſo ergrimmt?“ wagte ich jetzt zu
fragen.
„Ueber dieſe fünfzig Piaſter!“ antwortete die ‚Myrte‘,
indem ſie mit der verächtlichſten ihrer Mienen auf die
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/346>, abgerufen am 26.11.2024.
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