"Emir, ich lebe, aber nicht in mir, sondern in diesem Kinde. Ich bin gestorben seit langen, langen Jahren; aber ich stand wieder auf in Der, welche ich bewahrt sehen möchte vor jedem Flecken des Leibes und der Seele. Du hast nicht ihr allein, sondern auch mir das Leben erhalten, und du weißt nicht, wie gut dies ist für viele, die du weder kennst noch jemals gesehen hast. Du wirst wieder- kommen?"
"Ja, morgen."
"So brauche ich dir heute weiter nichts zu sagen."
Sie wandte sich ab und setzte sich wieder an ihren früheren Platz. Sie sprach so dunkel und war selbst für ihre Verwandten ein Rätsel. Ich hätte mir Zeit genug wünschen mögen, dieses Rätsel zu lösen. Ich sollte essen und trinken, ehe ich das Haus verließ, aber ich kam eben von dem Mahle her und hatte auch bei dem Mutesselim vielleicht ein solches zu erwarten; daher mußte ich ab- schlagen.
„Emir, ich lebe, aber nicht in mir, ſondern in dieſem Kinde. Ich bin geſtorben ſeit langen, langen Jahren; aber ich ſtand wieder auf in Der, welche ich bewahrt ſehen möchte vor jedem Flecken des Leibes und der Seele. Du haſt nicht ihr allein, ſondern auch mir das Leben erhalten, und du weißt nicht, wie gut dies iſt für viele, die du weder kennſt noch jemals geſehen haſt. Du wirſt wieder- kommen?“
„Ja, morgen.“
„So brauche ich dir heute weiter nichts zu ſagen.“
Sie wandte ſich ab und ſetzte ſich wieder an ihren früheren Platz. Sie ſprach ſo dunkel und war ſelbſt für ihre Verwandten ein Rätſel. Ich hätte mir Zeit genug wünſchen mögen, dieſes Rätſel zu löſen. Ich ſollte eſſen und trinken, ehe ich das Haus verließ, aber ich kam eben von dem Mahle her und hatte auch bei dem Muteſſelim vielleicht ein ſolches zu erwarten; daher mußte ich ab- ſchlagen.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0234"n="220"/><p>„Emir, ich lebe, aber nicht in mir, ſondern in dieſem<lb/>
Kinde. Ich bin geſtorben ſeit langen, langen Jahren;<lb/>
aber ich ſtand wieder auf in Der, welche ich bewahrt ſehen<lb/>
möchte vor jedem Flecken des Leibes und der Seele. Du<lb/>
haſt nicht ihr allein, ſondern auch mir das Leben erhalten,<lb/>
und du weißt nicht, wie gut dies iſt für viele, die du<lb/>
weder kennſt noch jemals geſehen haſt. Du wirſt wieder-<lb/>
kommen?“</p><lb/><p>„Ja, morgen.“</p><lb/><p>„So brauche ich dir heute weiter nichts zu ſagen.“</p><lb/><p>Sie wandte ſich ab und ſetzte ſich wieder an ihren<lb/>
früheren Platz. Sie ſprach ſo dunkel und war ſelbſt für<lb/>
ihre Verwandten ein Rätſel. Ich hätte mir Zeit genug<lb/>
wünſchen mögen, dieſes Rätſel zu löſen. Ich ſollte eſſen<lb/>
und trinken, ehe ich das Haus verließ, aber ich kam eben<lb/>
von dem Mahle her und hatte auch bei dem Muteſſelim<lb/>
vielleicht ein ſolches zu erwarten; daher mußte ich ab-<lb/>ſchlagen.</p></div><lb/></body></text></TEI>
[220/0234]
„Emir, ich lebe, aber nicht in mir, ſondern in dieſem
Kinde. Ich bin geſtorben ſeit langen, langen Jahren;
aber ich ſtand wieder auf in Der, welche ich bewahrt ſehen
möchte vor jedem Flecken des Leibes und der Seele. Du
haſt nicht ihr allein, ſondern auch mir das Leben erhalten,
und du weißt nicht, wie gut dies iſt für viele, die du
weder kennſt noch jemals geſehen haſt. Du wirſt wieder-
kommen?“
„Ja, morgen.“
„So brauche ich dir heute weiter nichts zu ſagen.“
Sie wandte ſich ab und ſetzte ſich wieder an ihren
früheren Platz. Sie ſprach ſo dunkel und war ſelbſt für
ihre Verwandten ein Rätſel. Ich hätte mir Zeit genug
wünſchen mögen, dieſes Rätſel zu löſen. Ich ſollte eſſen
und trinken, ehe ich das Haus verließ, aber ich kam eben
von dem Mahle her und hatte auch bei dem Muteſſelim
vielleicht ein ſolches zu erwarten; daher mußte ich ab-
ſchlagen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/234>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.