Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

Bild:
<< vorherige Seite

"Du hast richtig geraten, Effendi. Ich bin ein Kurde
von Lizan und für kurze Zeit nach Amadijah gezogen,
weil ich mich daheim nicht sicher fühlte."

"Nicht sicher? Warum?"

"Lizan gehört zu dem Gebiete von Tijari und wird
meist von nestorianischen Christen bewohnt. Diese haben
große Bedrückungen zu erleiden gehabt, so daß es seit
kurzem unter ihnen gärt, als ob sie sich einmal aufraffen
und Rache nehmen wollten. Weil ich nun kein Christ,
sondern ein Mohammedaner bin, so habe ich mich in
Sicherheit gebracht und kann hier mein Geschäft in Frie-
den treiben, bis die Gefahr vorüber ist."

"Welches Geschäft hast du?"

"Ich kaufe die Galläpfelernten ein und versende sie
nach dem Tigris, von wo aus sie dann weiter gehen."

"Du bist ein Moslem, und doch ist die alte Mutter,
welche ich bei dir sah, eine Christin. Wie kommt das?"

"Emir, das ist eine Geschichte, die mich und mein
Weib sehr betrübt. Der Ahne war ein berühmter Melek *)
der Tijaris und nahm die Lehre an von Christus, dem
Gekreuzigten. Sein Weib, die Ahne, die du gesehen hast,
that dasselbe. Aber sein Sohn war ein treuer Anhänger
des Propheten und trennte sich vom Vater. Dieser starb
und der Sohn später auch, der die Würde eines Melek
verloren hatte. Er war arm geworden um des Propheten
willen, trotzdem sein Vater einer der reichsten Fürsten des
Landes war. Seine Kinder blieben auch arm, und als
ich mein Weib heiratete, die seine Enkelin ist, hatte sie
kaum ein Kleid, um ihre Blöße zu bedecken. Aber wir
liebten einander, und Allah segnete uns; wir wurden
reich."

"Und die Ahne?"

*) König, Fürst.

„Du haſt richtig geraten, Effendi. Ich bin ein Kurde
von Lizan und für kurze Zeit nach Amadijah gezogen,
weil ich mich daheim nicht ſicher fühlte.“

„Nicht ſicher? Warum?“

„Lizan gehört zu dem Gebiete von Tijari und wird
meiſt von neſtorianiſchen Chriſten bewohnt. Dieſe haben
große Bedrückungen zu erleiden gehabt, ſo daß es ſeit
kurzem unter ihnen gärt, als ob ſie ſich einmal aufraffen
und Rache nehmen wollten. Weil ich nun kein Chriſt,
ſondern ein Mohammedaner bin, ſo habe ich mich in
Sicherheit gebracht und kann hier mein Geſchäft in Frie-
den treiben, bis die Gefahr vorüber iſt.“

„Welches Geſchäft haſt du?“

„Ich kaufe die Galläpfelernten ein und verſende ſie
nach dem Tigris, von wo aus ſie dann weiter gehen.“

„Du biſt ein Moslem, und doch iſt die alte Mutter,
welche ich bei dir ſah, eine Chriſtin. Wie kommt das?“

„Emir, das iſt eine Geſchichte, die mich und mein
Weib ſehr betrübt. Der Ahne war ein berühmter Melek *)
der Tijaris und nahm die Lehre an von Chriſtus, dem
Gekreuzigten. Sein Weib, die Ahne, die du geſehen haſt,
that dasſelbe. Aber ſein Sohn war ein treuer Anhänger
des Propheten und trennte ſich vom Vater. Dieſer ſtarb
und der Sohn ſpäter auch, der die Würde eines Melek
verloren hatte. Er war arm geworden um des Propheten
willen, trotzdem ſein Vater einer der reichſten Fürſten des
Landes war. Seine Kinder blieben auch arm, und als
ich mein Weib heiratete, die ſeine Enkelin iſt, hatte ſie
kaum ein Kleid, um ihre Blöße zu bedecken. Aber wir
liebten einander, und Allah ſegnete uns; wir wurden
reich.“

„Und die Ahne?“

*) König, Fürſt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0232" n="218"/>
        <p>&#x201E;Du ha&#x017F;t richtig geraten, Effendi. Ich bin ein Kurde<lb/>
von Lizan und für kurze Zeit nach Amadijah gezogen,<lb/>
weil ich mich daheim nicht &#x017F;icher fühlte.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nicht &#x017F;icher? Warum?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Lizan gehört zu dem Gebiete von Tijari und wird<lb/>
mei&#x017F;t von ne&#x017F;toriani&#x017F;chen Chri&#x017F;ten bewohnt. Die&#x017F;e haben<lb/>
große Bedrückungen zu erleiden gehabt, &#x017F;o daß es &#x017F;eit<lb/>
kurzem unter ihnen gärt, als ob &#x017F;ie &#x017F;ich einmal aufraffen<lb/>
und Rache nehmen wollten. Weil ich nun kein Chri&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;ondern ein Mohammedaner bin, &#x017F;o habe ich mich in<lb/>
Sicherheit gebracht und kann hier mein Ge&#x017F;chäft in Frie-<lb/>
den treiben, bis die Gefahr vorüber i&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Welches Ge&#x017F;chäft ha&#x017F;t du?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ich kaufe die Galläpfelernten ein und ver&#x017F;ende &#x017F;ie<lb/>
nach dem Tigris, von wo aus &#x017F;ie dann weiter gehen.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Du bi&#x017F;t ein Moslem, und doch i&#x017F;t die alte Mutter,<lb/>
welche ich bei dir &#x017F;ah, eine Chri&#x017F;tin. Wie kommt das?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Emir, das i&#x017F;t eine Ge&#x017F;chichte, die mich und mein<lb/>
Weib &#x017F;ehr betrübt. Der Ahne war ein berühmter Melek <note place="foot" n="*)">König, Für&#x017F;t.</note><lb/>
der Tijaris und nahm die Lehre an von Chri&#x017F;tus, dem<lb/>
Gekreuzigten. Sein Weib, die Ahne, die du ge&#x017F;ehen ha&#x017F;t,<lb/>
that das&#x017F;elbe. Aber &#x017F;ein Sohn war ein treuer Anhänger<lb/>
des Propheten und trennte &#x017F;ich vom Vater. Die&#x017F;er &#x017F;tarb<lb/>
und der Sohn &#x017F;päter auch, der die Würde eines Melek<lb/>
verloren hatte. Er war arm geworden um des Propheten<lb/>
willen, trotzdem &#x017F;ein Vater einer der reich&#x017F;ten Für&#x017F;ten des<lb/>
Landes war. Seine Kinder blieben auch arm, und als<lb/>
ich mein Weib heiratete, die &#x017F;eine Enkelin i&#x017F;t, hatte &#x017F;ie<lb/>
kaum ein Kleid, um ihre Blöße zu bedecken. Aber wir<lb/>
liebten einander, und Allah &#x017F;egnete uns; wir wurden<lb/>
reich.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Und die Ahne?&#x201C;</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[218/0232] „Du haſt richtig geraten, Effendi. Ich bin ein Kurde von Lizan und für kurze Zeit nach Amadijah gezogen, weil ich mich daheim nicht ſicher fühlte.“ „Nicht ſicher? Warum?“ „Lizan gehört zu dem Gebiete von Tijari und wird meiſt von neſtorianiſchen Chriſten bewohnt. Dieſe haben große Bedrückungen zu erleiden gehabt, ſo daß es ſeit kurzem unter ihnen gärt, als ob ſie ſich einmal aufraffen und Rache nehmen wollten. Weil ich nun kein Chriſt, ſondern ein Mohammedaner bin, ſo habe ich mich in Sicherheit gebracht und kann hier mein Geſchäft in Frie- den treiben, bis die Gefahr vorüber iſt.“ „Welches Geſchäft haſt du?“ „Ich kaufe die Galläpfelernten ein und verſende ſie nach dem Tigris, von wo aus ſie dann weiter gehen.“ „Du biſt ein Moslem, und doch iſt die alte Mutter, welche ich bei dir ſah, eine Chriſtin. Wie kommt das?“ „Emir, das iſt eine Geſchichte, die mich und mein Weib ſehr betrübt. Der Ahne war ein berühmter Melek *) der Tijaris und nahm die Lehre an von Chriſtus, dem Gekreuzigten. Sein Weib, die Ahne, die du geſehen haſt, that dasſelbe. Aber ſein Sohn war ein treuer Anhänger des Propheten und trennte ſich vom Vater. Dieſer ſtarb und der Sohn ſpäter auch, der die Würde eines Melek verloren hatte. Er war arm geworden um des Propheten willen, trotzdem ſein Vater einer der reichſten Fürſten des Landes war. Seine Kinder blieben auch arm, und als ich mein Weib heiratete, die ſeine Enkelin iſt, hatte ſie kaum ein Kleid, um ihre Blöße zu bedecken. Aber wir liebten einander, und Allah ſegnete uns; wir wurden reich.“ „Und die Ahne?“ *) König, Fürſt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/232
Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/232>, abgerufen am 06.05.2024.