"Albernheit! Wenn der Teufel in ihr steckte, würde sie nicht von dem Himmel sprechen."
"Herr, das verstehst du nicht! Er hat ihr das Essen und Trinken verboten und sie schwindelig gemacht."
"Laßt mich sie sehen!"
Ich schob die Weiber beiseite und kniete neben ihr nieder. Es war ein sehr schönes Mädchen.
"Herr, rette meine Tochter vom Tode," jammerte eine der Frauen, "und wir werden dir alles geben, was wir besitzen."
"Ja," bestätigte der Mann, welcher mich geholt hatte. "Alles, alles sollst du haben, denn sie ist unser einziges Kind, unser Leben."
"Rette sie," ertönte eine Stimme aus dem Hinter- grunde des Raumes; "so sollst du Reichtum besitzen und Gottes Liebling sein!"
Ich schaute nach dieser Gegend hin und erblickte eine alte Frau, deren Aeußeres mich schaudern machte. Sie schien ihre hundert Jahre zu zählen; ihre Gestalt war tief gebeugt und bestand wohl nur aus Haut und Knochen; ihr fürchterlich hageres Gesicht machte geradezu den Ein- druck eines Totenkopfes, aber von ihrem Haupte hingen schwere weiße Haarzöpfe fast bis auf den Boden herab.
"Ja, rette sie, rette mein Urenkelkind!" wiederholte sie, indem sie bittend die gefalteten, ausgedorrten Hände erhob, von denen ein Rosenkranz hernieder hing. "Ich werde niederknieen und zur schmerzensreichen Mutter Gottes bitten, daß es dir gelingen möge."
Eine Katholikin! Hier unter den Kurden und Türken!
"Bete," antwortete ich ergriffen; "ich werde versuchen, ob hier ein Mensch noch helfen kann!"
Die Kranke lag da mit offenen, heiteren Augen; aber ihre Pupillen waren sehr erweitert. Ihr Angesicht war
„Albernheit! Wenn der Teufel in ihr ſteckte, würde ſie nicht von dem Himmel ſprechen.“
„Herr, das verſtehſt du nicht! Er hat ihr das Eſſen und Trinken verboten und ſie ſchwindelig gemacht.“
„Laßt mich ſie ſehen!“
Ich ſchob die Weiber beiſeite und kniete neben ihr nieder. Es war ein ſehr ſchönes Mädchen.
„Herr, rette meine Tochter vom Tode,“ jammerte eine der Frauen, „und wir werden dir alles geben, was wir beſitzen.“
„Ja,“ beſtätigte der Mann, welcher mich geholt hatte. „Alles, alles ſollſt du haben, denn ſie iſt unſer einziges Kind, unſer Leben.“
„Rette ſie,“ ertönte eine Stimme aus dem Hinter- grunde des Raumes; „ſo ſollſt du Reichtum beſitzen und Gottes Liebling ſein!“
Ich ſchaute nach dieſer Gegend hin und erblickte eine alte Frau, deren Aeußeres mich ſchaudern machte. Sie ſchien ihre hundert Jahre zu zählen; ihre Geſtalt war tief gebeugt und beſtand wohl nur aus Haut und Knochen; ihr fürchterlich hageres Geſicht machte geradezu den Ein- druck eines Totenkopfes, aber von ihrem Haupte hingen ſchwere weiße Haarzöpfe faſt bis auf den Boden herab.
„Ja, rette ſie, rette mein Urenkelkind!“ wiederholte ſie, indem ſie bittend die gefalteten, ausgedorrten Hände erhob, von denen ein Roſenkranz hernieder hing. „Ich werde niederknieen und zur ſchmerzensreichen Mutter Gottes bitten, daß es dir gelingen möge.“
Eine Katholikin! Hier unter den Kurden und Türken!
„Bete,“ antwortete ich ergriffen; „ich werde verſuchen, ob hier ein Menſch noch helfen kann!“
Die Kranke lag da mit offenen, heiteren Augen; aber ihre Pupillen waren ſehr erweitert. Ihr Angeſicht war
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0221"n="207"/><p>„Albernheit! Wenn der Teufel in ihr ſteckte, würde<lb/>ſie nicht von dem Himmel ſprechen.“</p><lb/><p>„Herr, das verſtehſt du nicht! Er hat ihr das Eſſen<lb/>
und Trinken verboten und ſie ſchwindelig gemacht.“</p><lb/><p>„Laßt mich ſie ſehen!“</p><lb/><p>Ich ſchob die Weiber beiſeite und kniete neben ihr<lb/>
nieder. Es war ein ſehr ſchönes Mädchen.</p><lb/><p>„Herr, rette meine Tochter vom Tode,“ jammerte<lb/>
eine der Frauen, „und wir werden dir alles geben, was<lb/>
wir beſitzen.“</p><lb/><p>„Ja,“ beſtätigte der Mann, welcher mich geholt hatte.<lb/>„Alles, alles ſollſt du haben, denn ſie iſt unſer einziges<lb/>
Kind, unſer Leben.“</p><lb/><p>„Rette ſie,“ ertönte eine Stimme aus dem Hinter-<lb/>
grunde des Raumes; „ſo ſollſt du Reichtum beſitzen und<lb/>
Gottes Liebling ſein!“</p><lb/><p>Ich ſchaute nach dieſer Gegend hin und erblickte eine<lb/>
alte Frau, deren Aeußeres mich ſchaudern machte. Sie<lb/>ſchien ihre hundert Jahre zu zählen; ihre Geſtalt war<lb/>
tief gebeugt und beſtand wohl nur aus Haut und Knochen;<lb/>
ihr fürchterlich hageres Geſicht machte geradezu den Ein-<lb/>
druck eines Totenkopfes, aber von ihrem Haupte hingen<lb/>ſchwere weiße Haarzöpfe faſt bis auf den Boden herab.</p><lb/><p>„Ja, rette ſie, rette mein Urenkelkind!“ wiederholte<lb/>ſie, indem ſie bittend die gefalteten, ausgedorrten Hände<lb/>
erhob, von denen ein Roſenkranz hernieder hing. „Ich<lb/>
werde niederknieen und zur ſchmerzensreichen Mutter<lb/>
Gottes bitten, daß es dir gelingen möge.“</p><lb/><p>Eine Katholikin! Hier unter den Kurden und Türken!</p><lb/><p>„Bete,“ antwortete ich ergriffen; „ich werde verſuchen,<lb/>
ob hier ein Menſch noch helfen kann!“</p><lb/><p>Die Kranke lag da mit offenen, heiteren Augen; aber<lb/>
ihre Pupillen waren ſehr erweitert. Ihr Angeſicht war<lb/></p></div></body></text></TEI>
[207/0221]
„Albernheit! Wenn der Teufel in ihr ſteckte, würde
ſie nicht von dem Himmel ſprechen.“
„Herr, das verſtehſt du nicht! Er hat ihr das Eſſen
und Trinken verboten und ſie ſchwindelig gemacht.“
„Laßt mich ſie ſehen!“
Ich ſchob die Weiber beiſeite und kniete neben ihr
nieder. Es war ein ſehr ſchönes Mädchen.
„Herr, rette meine Tochter vom Tode,“ jammerte
eine der Frauen, „und wir werden dir alles geben, was
wir beſitzen.“
„Ja,“ beſtätigte der Mann, welcher mich geholt hatte.
„Alles, alles ſollſt du haben, denn ſie iſt unſer einziges
Kind, unſer Leben.“
„Rette ſie,“ ertönte eine Stimme aus dem Hinter-
grunde des Raumes; „ſo ſollſt du Reichtum beſitzen und
Gottes Liebling ſein!“
Ich ſchaute nach dieſer Gegend hin und erblickte eine
alte Frau, deren Aeußeres mich ſchaudern machte. Sie
ſchien ihre hundert Jahre zu zählen; ihre Geſtalt war
tief gebeugt und beſtand wohl nur aus Haut und Knochen;
ihr fürchterlich hageres Geſicht machte geradezu den Ein-
druck eines Totenkopfes, aber von ihrem Haupte hingen
ſchwere weiße Haarzöpfe faſt bis auf den Boden herab.
„Ja, rette ſie, rette mein Urenkelkind!“ wiederholte
ſie, indem ſie bittend die gefalteten, ausgedorrten Hände
erhob, von denen ein Roſenkranz hernieder hing. „Ich
werde niederknieen und zur ſchmerzensreichen Mutter
Gottes bitten, daß es dir gelingen möge.“
Eine Katholikin! Hier unter den Kurden und Türken!
„Bete,“ antwortete ich ergriffen; „ich werde verſuchen,
ob hier ein Menſch noch helfen kann!“
Die Kranke lag da mit offenen, heiteren Augen; aber
ihre Pupillen waren ſehr erweitert. Ihr Angeſicht war
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/221>, abgerufen am 23.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.