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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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gekostet hatte. In der Mitte der voraussichtlichen Höhe
war ein hohler Raum gelassen, der die Gestalt einer
zwölfstrahligen Sonne hatte und von deren Mittelpunkt
die Urne aufgenommen werden sollte. Mehrere hundert
Männer arbeiteten daran, und noch mehr Frauen und
Kinder waren beschäftigt, Steine herbeizuwälzen, oder
hingen wie Eichhörnchen an den Vorsprüngen der Felsen-
wand, um von oben herab dem Baue förderlich zu sein.

Die Priester waren teils mit der Beaufsichtigung des
Werkes beschäftigt, teils legten sie selbst mit Hand an.
Mir Scheik Khan saß in der Nähe der Pyramide. Wir
gingen zu ihm. Ali Bey erzählte ihm die heutigen Vor-
kommnisse und zeigte ihm auch die beiden Schreiben des
Mutessarif. Der Khan versank in tiefes Nachdenken;
dann aber fragte er:

"Was wirst du thun, Ali Bey?"

"Du bist der ältere und der weisere; ich komme, mir
deinen Rat zu erbitten."

"Du sagst, ich sei der ältere. Das Alter liebt die
Ruhe und den Frieden. Du sagst, ich sei der weisere.
Die größte Weisheit ist der Gedanke an den Allmächtigen
und Allgütigen. Er macht den Schwachen stark; er be-
schützt den Unterdrückten; er will nicht, daß der Mensch
das Blut seines Bruders vergieße."

"Sind diese Türken unsere Brüder? Sie, die wie
wilde Tiere über uns und die Unserigen herfallen?"

"Sie sind unsere Brüder, obgleich sie nicht als Brüder
an uns handeln. Tötest du einen Bruder, der dir übel
will?"

"Nein."

"Du sprichst mit ihm freundlich oder streng, aber du
forderst nicht sein Leben. So sollst du auch mit dem
Mutessarif reden."

gekoſtet hatte. In der Mitte der vorausſichtlichen Höhe
war ein hohler Raum gelaſſen, der die Geſtalt einer
zwölfſtrahligen Sonne hatte und von deren Mittelpunkt
die Urne aufgenommen werden ſollte. Mehrere hundert
Männer arbeiteten daran, und noch mehr Frauen und
Kinder waren beſchäftigt, Steine herbeizuwälzen, oder
hingen wie Eichhörnchen an den Vorſprüngen der Felſen-
wand, um von oben herab dem Baue förderlich zu ſein.

Die Prieſter waren teils mit der Beaufſichtigung des
Werkes beſchäftigt, teils legten ſie ſelbſt mit Hand an.
Mir Scheik Khan ſaß in der Nähe der Pyramide. Wir
gingen zu ihm. Ali Bey erzählte ihm die heutigen Vor-
kommniſſe und zeigte ihm auch die beiden Schreiben des
Muteſſarif. Der Khan verſank in tiefes Nachdenken;
dann aber fragte er:

„Was wirſt du thun, Ali Bey?“

„Du biſt der ältere und der weiſere; ich komme, mir
deinen Rat zu erbitten.“

„Du ſagſt, ich ſei der ältere. Das Alter liebt die
Ruhe und den Frieden. Du ſagſt, ich ſei der weiſere.
Die größte Weisheit iſt der Gedanke an den Allmächtigen
und Allgütigen. Er macht den Schwachen ſtark; er be-
ſchützt den Unterdrückten; er will nicht, daß der Menſch
das Blut ſeines Bruders vergieße.“

„Sind dieſe Türken unſere Brüder? Sie, die wie
wilde Tiere über uns und die Unſerigen herfallen?“

„Sie ſind unſere Brüder, obgleich ſie nicht als Brüder
an uns handeln. Töteſt du einen Bruder, der dir übel
will?“

„Nein.“

„Du ſprichſt mit ihm freundlich oder ſtreng, aber du
forderſt nicht ſein Leben. So ſollſt du auch mit dem
Muteſſarif reden.“

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[99/0113] gekoſtet hatte. In der Mitte der vorausſichtlichen Höhe war ein hohler Raum gelaſſen, der die Geſtalt einer zwölfſtrahligen Sonne hatte und von deren Mittelpunkt die Urne aufgenommen werden ſollte. Mehrere hundert Männer arbeiteten daran, und noch mehr Frauen und Kinder waren beſchäftigt, Steine herbeizuwälzen, oder hingen wie Eichhörnchen an den Vorſprüngen der Felſen- wand, um von oben herab dem Baue förderlich zu ſein. Die Prieſter waren teils mit der Beaufſichtigung des Werkes beſchäftigt, teils legten ſie ſelbſt mit Hand an. Mir Scheik Khan ſaß in der Nähe der Pyramide. Wir gingen zu ihm. Ali Bey erzählte ihm die heutigen Vor- kommniſſe und zeigte ihm auch die beiden Schreiben des Muteſſarif. Der Khan verſank in tiefes Nachdenken; dann aber fragte er: „Was wirſt du thun, Ali Bey?“ „Du biſt der ältere und der weiſere; ich komme, mir deinen Rat zu erbitten.“ „Du ſagſt, ich ſei der ältere. Das Alter liebt die Ruhe und den Frieden. Du ſagſt, ich ſei der weiſere. Die größte Weisheit iſt der Gedanke an den Allmächtigen und Allgütigen. Er macht den Schwachen ſtark; er be- ſchützt den Unterdrückten; er will nicht, daß der Menſch das Blut ſeines Bruders vergieße.“ „Sind dieſe Türken unſere Brüder? Sie, die wie wilde Tiere über uns und die Unſerigen herfallen?“ „Sie ſind unſere Brüder, obgleich ſie nicht als Brüder an uns handeln. Töteſt du einen Bruder, der dir übel will?“ „Nein.“ „Du ſprichſt mit ihm freundlich oder ſtreng, aber du forderſt nicht ſein Leben. So ſollſt du auch mit dem Muteſſarif reden.“

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/113>, abgerufen am 22.11.2024.