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Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905.

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bis sie in den Weg einbiegen, der zu unsern Zielen des Le-
bens führt, sind Schule, Familie, Gesellschaft. Von der
Schule muß eine Erneuerung der Ziele und Wege der Frauen-
bildung ausgehen. Ihre Aufgabe ist der erziehende Unter-
richt, also vor allem eine Erweiterung und Ordnung des Vor-
stellungskreises, durch den das innere Leben des heranwachsen-
den Mädchens reguliert, geklärt, gefestigt wird. Der Schule
sind zwei Aufgaben zuzuweisen, die sie bisher sehr ungenügend
gelöst hat. Sie hat gründliches Wissen, Erkennen und Ver-
arbeiten zu lehren, und sie hat alle geistige Arbeit an reale
Interessen des weiblichen Lebens
zu knüpfen. Damit
die Schule frei wird von den Nebenrücksichten auf die Launen
und Vorurteile der heutigen Gesellschaft, der nur im behag-
lichen Gestrigen wohl ist, und auf die Schwächen der einzelnen
Familie, deren Fehler sie ja eventuell zum Heil des Kindes
ausgleichen und verbessern soll, muß sie, wie die Knabenbil-
dung, den Zufälligkeiten der Privatindustrie entrissen werden.
Sie ist eine Pflicht des Volkes, das ein Interesse hat
an der Entwickelung seiner zukünftigen Mütter. Kein Geld
ist besser angelegt und trägt kostbarere Zinsen für eine Na-
tion, als die Summe, die sie für die innere Kräftigung an-
legt. Was helfen die Millionen, die in die Flotte gesteckt
werden zum Beherrschen der fernen Meere, in die Armee zur
Rüstung gegen unsere Feinde, in den Handel zum wirtschaft-
lichen Kampf gegen andere Völker; die ungezählten Summen,
die unser Volk an seine Grenzen wirft, um da das Deutsch-
tum nicht einschrumpfen zu lassen -- wenn heimliche Wunden
brennen und die Volksseele krankt und matt und welk ist?
Es kommt mir vor, als ob man ein kränkelndes Kind fort-
während mit kräftigem Essen stopfen wollte: es wird höchstens
aufgetrieben, aber nicht kraftvoll werden durch alle die äußeren
Mittel. Da möchte man das Wort Christi mahnend rufen:
"Reinige zum ersten das Inwendige am Becher und Schüssel,
daß auch das Auswendige rein werde!" Reichliche, selbstän-

bis sie in den Weg einbiegen, der zu unsern Zielen des Le-
bens führt, sind Schule, Familie, Gesellschaft. Von der
Schule muß eine Erneuerung der Ziele und Wege der Frauen-
bildung ausgehen. Ihre Aufgabe ist der erziehende Unter-
richt, also vor allem eine Erweiterung und Ordnung des Vor-
stellungskreises, durch den das innere Leben des heranwachsen-
den Mädchens reguliert, geklärt, gefestigt wird. Der Schule
sind zwei Aufgaben zuzuweisen, die sie bisher sehr ungenügend
gelöst hat. Sie hat gründliches Wissen, Erkennen und Ver-
arbeiten zu lehren, und sie hat alle geistige Arbeit an reale
Interessen des weiblichen Lebens
zu knüpfen. Damit
die Schule frei wird von den Nebenrücksichten auf die Launen
und Vorurteile der heutigen Gesellschaft, der nur im behag-
lichen Gestrigen wohl ist, und auf die Schwächen der einzelnen
Familie, deren Fehler sie ja eventuell zum Heil des Kindes
ausgleichen und verbessern soll, muß sie, wie die Knabenbil-
dung, den Zufälligkeiten der Privatindustrie entrissen werden.
Sie ist eine Pflicht des Volkes, das ein Interesse hat
an der Entwickelung seiner zukünftigen Mütter. Kein Geld
ist besser angelegt und trägt kostbarere Zinsen für eine Na-
tion, als die Summe, die sie für die innere Kräftigung an-
legt. Was helfen die Millionen, die in die Flotte gesteckt
werden zum Beherrschen der fernen Meere, in die Armee zur
Rüstung gegen unsere Feinde, in den Handel zum wirtschaft-
lichen Kampf gegen andere Völker; die ungezählten Summen,
die unser Volk an seine Grenzen wirft, um da das Deutsch-
tum nicht einschrumpfen zu lassen — wenn heimliche Wunden
brennen und die Volksseele krankt und matt und welk ist?
Es kommt mir vor, als ob man ein kränkelndes Kind fort-
während mit kräftigem Essen stopfen wollte: es wird höchstens
aufgetrieben, aber nicht kraftvoll werden durch alle die äußeren
Mittel. Da möchte man das Wort Christi mahnend rufen:
„Reinige zum ersten das Inwendige am Becher und Schüssel,
daß auch das Auswendige rein werde!“ Reichliche, selbstän-

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[36/0039] bis sie in den Weg einbiegen, der zu unsern Zielen des Le- bens führt, sind Schule, Familie, Gesellschaft. Von der Schule muß eine Erneuerung der Ziele und Wege der Frauen- bildung ausgehen. Ihre Aufgabe ist der erziehende Unter- richt, also vor allem eine Erweiterung und Ordnung des Vor- stellungskreises, durch den das innere Leben des heranwachsen- den Mädchens reguliert, geklärt, gefestigt wird. Der Schule sind zwei Aufgaben zuzuweisen, die sie bisher sehr ungenügend gelöst hat. Sie hat gründliches Wissen, Erkennen und Ver- arbeiten zu lehren, und sie hat alle geistige Arbeit an reale Interessen des weiblichen Lebens zu knüpfen. Damit die Schule frei wird von den Nebenrücksichten auf die Launen und Vorurteile der heutigen Gesellschaft, der nur im behag- lichen Gestrigen wohl ist, und auf die Schwächen der einzelnen Familie, deren Fehler sie ja eventuell zum Heil des Kindes ausgleichen und verbessern soll, muß sie, wie die Knabenbil- dung, den Zufälligkeiten der Privatindustrie entrissen werden. Sie ist eine Pflicht des Volkes, das ein Interesse hat an der Entwickelung seiner zukünftigen Mütter. Kein Geld ist besser angelegt und trägt kostbarere Zinsen für eine Na- tion, als die Summe, die sie für die innere Kräftigung an- legt. Was helfen die Millionen, die in die Flotte gesteckt werden zum Beherrschen der fernen Meere, in die Armee zur Rüstung gegen unsere Feinde, in den Handel zum wirtschaft- lichen Kampf gegen andere Völker; die ungezählten Summen, die unser Volk an seine Grenzen wirft, um da das Deutsch- tum nicht einschrumpfen zu lassen — wenn heimliche Wunden brennen und die Volksseele krankt und matt und welk ist? Es kommt mir vor, als ob man ein kränkelndes Kind fort- während mit kräftigem Essen stopfen wollte: es wird höchstens aufgetrieben, aber nicht kraftvoll werden durch alle die äußeren Mittel. Da möchte man das Wort Christi mahnend rufen: „Reinige zum ersten das Inwendige am Becher und Schüssel, daß auch das Auswendige rein werde!“ Reichliche, selbstän-

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Zitationshilfe: Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/39>, abgerufen am 24.11.2024.