Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite
Siebenter Abschnitt.
"Die Secunde ist die erste Dissonanz in der Harmonie.
"Denn wenn man auf die natürliche Entstehung der Jn-
"tervalle Acht giebt, so sind die Octave 1/2, Quinte 2/3 ,
"Quarte 3/4, große und kleine Terz 4/5 und 5/6 consonirend.
"Hiezu würde noch die verminderte Terz gerechnet wer-
"den können; das Jntervall 7/8 wäre alsdenn die Gränz-
"scheidung zwischen den Consonanzen und Dissonanzen.
"Da aber beyde Jntervalle in unserm heutigen System noch
"nicht eingeführet sind, so bleibet die kleine Terz die lezte
"Consonanz, und mit der Secunde fangen die Dissonan-
"zen an."
§. 53.

Entweder haben wir eine harmonische Tonleiter, in wel-
cher alle nur mögliche Verhältnisse unsers Systems verborgen
liegen, oder wir haben keine. Haben wir keine, so haben
wir auch keine Regel unserer Operationen; wir tappen im Fin-
stern und unsere Aussprüche gelten soviel als nichts. Haben
wir aber eine, so müssen wir solche gebrauchen wie es sich ge-
höret, wenigstens wenn unsere Lehren zusammenhängen und
nicht einander widersprechen sollen. Diese harmonische Ton-
leiter erstrecket sich nun nicht weiter als bis auf den Umfang
der sechs ersten Zahlen. So hat alle Welt gelehret; so wird
man vermuthlich allezeit lehren, und das Ohr, für welches die
Musik gemacht ist, wird beweisen, daß man die Gränzen die-
ser Tonleiter nicht weiter als bis zur Zahl 6 inclusive ausdeh-
nen könne. Ueberschreiten wir nun die von der Natur uns ge-
setzte Gränzen, so handeln wir unnatürlich, und das ist der
Fall, worinnen man sich befindet, wenn man über die har-
monische Tonleiter hinausspringet, um ein Verhältniß zu fin-
den, das innerhalb derselben nicht einmal, sondern sogar zwey-
mal enthalten ist. Denn das Verhältniß 9:8 der großen Se-
cunde entspringet nicht allein aus der Umkehrung des aus 42:32
resultirenden Verhältnisses 16:9, sondern auch aus der Ab-
ziehung der Quarte von der Quinte, indem (3:2)--(4:3)
= 9:8. Es findet sich hier kein anderer Unterscheid, als
daß, ehe die große Secunde 9:8 auf die zulezt angezeigte Art
erschien, sie bereits auf die zuerst angezeigte Art vorhanden

war,
Siebenter Abſchnitt.
„Die Secunde iſt die erſte Diſſonanz in der Harmonie.
„Denn wenn man auf die natuͤrliche Entſtehung der Jn-
„tervalle Acht giebt, ſo ſind die Octave ½, Quinte ⅔,
„Quarte ¾, große und kleine Terz ⅘ und ⅚ conſonirend.
„Hiezu wuͤrde noch die verminderte Terz gerechnet wer-
„den koͤnnen; das Jntervall ⅞ waͤre alsdenn die Graͤnz-
„ſcheidung zwiſchen den Conſonanzen und Diſſonanzen.
„Da aber beyde Jntervalle in unſerm heutigen Syſtem noch
„nicht eingefuͤhret ſind, ſo bleibet die kleine Terz die lezte
„Conſonanz, und mit der Secunde fangen die Diſſonan-
„zen an.‟
§. 53.

Entweder haben wir eine harmoniſche Tonleiter, in wel-
cher alle nur moͤgliche Verhaͤltniſſe unſers Syſtems verborgen
liegen, oder wir haben keine. Haben wir keine, ſo haben
wir auch keine Regel unſerer Operationen; wir tappen im Fin-
ſtern und unſere Ausſpruͤche gelten ſoviel als nichts. Haben
wir aber eine, ſo muͤſſen wir ſolche gebrauchen wie es ſich ge-
hoͤret, wenigſtens wenn unſere Lehren zuſammenhaͤngen und
nicht einander widerſprechen ſollen. Dieſe harmoniſche Ton-
leiter erſtrecket ſich nun nicht weiter als bis auf den Umfang
der ſechs erſten Zahlen. So hat alle Welt gelehret; ſo wird
man vermuthlich allezeit lehren, und das Ohr, fuͤr welches die
Muſik gemacht iſt, wird beweiſen, daß man die Graͤnzen die-
ſer Tonleiter nicht weiter als bis zur Zahl 6 incluſive ausdeh-
nen koͤnne. Ueberſchreiten wir nun die von der Natur uns ge-
ſetzte Graͤnzen, ſo handeln wir unnatuͤrlich, und das iſt der
Fall, worinnen man ſich befindet, wenn man uͤber die har-
moniſche Tonleiter hinausſpringet, um ein Verhaͤltniß zu fin-
den, das innerhalb derſelben nicht einmal, ſondern ſogar zwey-
mal enthalten iſt. Denn das Verhaͤltniß 9:8 der großen Se-
cunde entſpringet nicht allein aus der Umkehrung des aus 42:32
reſultirenden Verhaͤltniſſes 16:9, ſondern auch aus der Ab-
ziehung der Quarte von der Quinte, indem (3:2)—(4:3)
= 9:8. Es findet ſich hier kein anderer Unterſcheid, als
daß, ehe die große Secunde 9:8 auf die zulezt angezeigte Art
erſchien, ſie bereits auf die zuerſt angezeigte Art vorhanden

war,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0068" n="48"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Siebenter Ab&#x017F;chnitt.</hi> </fw><lb/>
            <cit>
              <quote>&#x201E;Die Secunde i&#x017F;t die er&#x017F;te Di&#x017F;&#x017F;onanz in der Harmonie.<lb/>
&#x201E;Denn wenn man auf die natu&#x0364;rliche Ent&#x017F;tehung der Jn-<lb/>
&#x201E;tervalle Acht giebt, &#x017F;o &#x017F;ind die Octave ½, Quinte &#x2154;,<lb/>
&#x201E;Quarte ¾, große und kleine Terz &#x2158; und &#x215A; con&#x017F;onirend.<lb/>
&#x201E;Hiezu wu&#x0364;rde noch die verminderte Terz <formula notation="TeX">\frac{6}{7}</formula> gerechnet wer-<lb/>
&#x201E;den ko&#x0364;nnen; das Jntervall &#x215E; wa&#x0364;re alsdenn die Gra&#x0364;nz-<lb/>
&#x201E;&#x017F;cheidung zwi&#x017F;chen den Con&#x017F;onanzen und Di&#x017F;&#x017F;onanzen.<lb/>
&#x201E;Da aber beyde Jntervalle in un&#x017F;erm heutigen Sy&#x017F;tem noch<lb/>
&#x201E;nicht eingefu&#x0364;hret &#x017F;ind, &#x017F;o bleibet die kleine Terz die lezte<lb/>
&#x201E;Con&#x017F;onanz, und mit der Secunde fangen die Di&#x017F;&#x017F;onan-<lb/>
&#x201E;zen an.&#x201F;</quote>
            </cit>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 53.</head><lb/>
            <p>Entweder haben wir eine harmoni&#x017F;che Tonleiter, in wel-<lb/>
cher alle nur mo&#x0364;gliche Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e un&#x017F;ers Sy&#x017F;tems verborgen<lb/>
liegen, oder wir haben keine. Haben wir keine, &#x017F;o haben<lb/>
wir auch keine Regel un&#x017F;erer Operationen; wir tappen im Fin-<lb/>
&#x017F;tern und un&#x017F;ere Aus&#x017F;pru&#x0364;che gelten &#x017F;oviel als nichts. Haben<lb/>
wir aber eine, &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir &#x017F;olche gebrauchen wie es &#x017F;ich ge-<lb/>
ho&#x0364;ret, wenig&#x017F;tens wenn un&#x017F;ere Lehren zu&#x017F;ammenha&#x0364;ngen und<lb/>
nicht einander wider&#x017F;prechen &#x017F;ollen. Die&#x017F;e harmoni&#x017F;che Ton-<lb/>
leiter er&#x017F;trecket &#x017F;ich nun nicht weiter als bis auf den Umfang<lb/>
der &#x017F;echs er&#x017F;ten Zahlen. So hat alle Welt gelehret; &#x017F;o wird<lb/>
man vermuthlich allezeit lehren, und das Ohr, fu&#x0364;r welches die<lb/>
Mu&#x017F;ik gemacht i&#x017F;t, wird bewei&#x017F;en, daß man die Gra&#x0364;nzen die-<lb/>
&#x017F;er Tonleiter nicht weiter als bis zur Zahl 6 inclu&#x017F;ive ausdeh-<lb/>
nen ko&#x0364;nne. Ueber&#x017F;chreiten wir nun die von der Natur uns ge-<lb/>
&#x017F;etzte Gra&#x0364;nzen, &#x017F;o handeln wir unnatu&#x0364;rlich, und das i&#x017F;t der<lb/>
Fall, worinnen man &#x017F;ich befindet, wenn man u&#x0364;ber die har-<lb/>
moni&#x017F;che Tonleiter hinaus&#x017F;pringet, um ein Verha&#x0364;ltniß zu fin-<lb/>
den, das innerhalb der&#x017F;elben nicht einmal, &#x017F;ondern &#x017F;ogar zwey-<lb/>
mal enthalten i&#x017F;t. Denn das Verha&#x0364;ltniß 9:8 der großen Se-<lb/>
cunde ent&#x017F;pringet nicht allein aus der Umkehrung des aus 4<hi rendition="#sup">2</hi>:3<hi rendition="#sup">2</hi><lb/>
re&#x017F;ultirenden Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;es 16:9, &#x017F;ondern auch aus der Ab-<lb/>
ziehung der Quarte von der Quinte, indem (3:2)&#x2014;(4:3)<lb/>
= 9:8. Es findet &#x017F;ich hier kein anderer Unter&#x017F;cheid, als<lb/>
daß, ehe die große Secunde 9:8 auf die zulezt angezeigte Art<lb/>
er&#x017F;chien, &#x017F;ie bereits auf die zuer&#x017F;t angezeigte Art vorhanden<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">war,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[48/0068] Siebenter Abſchnitt. „Die Secunde iſt die erſte Diſſonanz in der Harmonie. „Denn wenn man auf die natuͤrliche Entſtehung der Jn- „tervalle Acht giebt, ſo ſind die Octave ½, Quinte ⅔, „Quarte ¾, große und kleine Terz ⅘ und ⅚ conſonirend. „Hiezu wuͤrde noch die verminderte Terz [FORMEL] gerechnet wer- „den koͤnnen; das Jntervall ⅞ waͤre alsdenn die Graͤnz- „ſcheidung zwiſchen den Conſonanzen und Diſſonanzen. „Da aber beyde Jntervalle in unſerm heutigen Syſtem noch „nicht eingefuͤhret ſind, ſo bleibet die kleine Terz die lezte „Conſonanz, und mit der Secunde fangen die Diſſonan- „zen an.‟ §. 53. Entweder haben wir eine harmoniſche Tonleiter, in wel- cher alle nur moͤgliche Verhaͤltniſſe unſers Syſtems verborgen liegen, oder wir haben keine. Haben wir keine, ſo haben wir auch keine Regel unſerer Operationen; wir tappen im Fin- ſtern und unſere Ausſpruͤche gelten ſoviel als nichts. Haben wir aber eine, ſo muͤſſen wir ſolche gebrauchen wie es ſich ge- hoͤret, wenigſtens wenn unſere Lehren zuſammenhaͤngen und nicht einander widerſprechen ſollen. Dieſe harmoniſche Ton- leiter erſtrecket ſich nun nicht weiter als bis auf den Umfang der ſechs erſten Zahlen. So hat alle Welt gelehret; ſo wird man vermuthlich allezeit lehren, und das Ohr, fuͤr welches die Muſik gemacht iſt, wird beweiſen, daß man die Graͤnzen die- ſer Tonleiter nicht weiter als bis zur Zahl 6 incluſive ausdeh- nen koͤnne. Ueberſchreiten wir nun die von der Natur uns ge- ſetzte Graͤnzen, ſo handeln wir unnatuͤrlich, und das iſt der Fall, worinnen man ſich befindet, wenn man uͤber die har- moniſche Tonleiter hinausſpringet, um ein Verhaͤltniß zu fin- den, das innerhalb derſelben nicht einmal, ſondern ſogar zwey- mal enthalten iſt. Denn das Verhaͤltniß 9:8 der großen Se- cunde entſpringet nicht allein aus der Umkehrung des aus 42:32 reſultirenden Verhaͤltniſſes 16:9, ſondern auch aus der Ab- ziehung der Quarte von der Quinte, indem (3:2)—(4:3) = 9:8. Es findet ſich hier kein anderer Unterſcheid, als daß, ehe die große Secunde 9:8 auf die zulezt angezeigte Art erſchien, ſie bereits auf die zuerſt angezeigte Art vorhanden war,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/68
Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/68>, abgerufen am 27.11.2024.