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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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Kurzer Begriff der Lehre vom Grundbaß.
rühmte Capellmeister Joh. Seb. Bach, und Sätze, die der-
selbe gebrauchet hat, können ohne Zweifel in ähnlichen Fällen
auch von andern Tonsetzern gebrauchet werden. Jch nenne
aber allhier unbekanntere Sätze theils diejenigen, welche
auf der im §. 275. dargelegten Art von Zusammensetzung an
sich beruhen; *) theils diejenigen, welche aus der Umkehrung
aller Arten von zusammengesetzten Accorden, in soweit diese
Umkehrung statt sindet, entstehen, und welche unter den Si-
gnaturen unseres Generalbasses noch nicht befindlich sind.

§. 277.

Der Hr. Kirnberger scheint den ungewöhnlichern Sätzen
nicht abgeneigt zu seyn, wie man theils aus den Tabellen sei-
ner Kunst etc. und Grundsätze etc. theils aus den Seite 27.
dieser Grundsätze etc. vorgebrachten Exempeln siehet, er mag
sie übrigens entspringen lassen, wie er will. Nur glaube ich,
daß, wenn diese Werke zum zweytenmal gedruckt werden soll-
ten, gewisse Sätze ganz anders, als allhier geschehen ist, wer-
den gehandhabet werden. So hat derselbe zum Exempel
Seite 27. der Grundsatze den Accord c e a f gis h d auf die Art
wie bey Fig. 56, und die Accorde g h d fa und e c h d f g auf
die Art wie bey Fig. 57. behandelt. (Jch übergehe die an-
dern Sätze.) Was in dieser Behandlung vielen hauptsächlich
anstößig seyn möchte, ist in dem ersten Exempel die sich octa-
virend auflösende None, und in dem zweyten die Folge zwey
unzuläßiger Quinten. Jch bin zwar versichert, daß der Hr.
Kirnberger sich diese Freiheiten mit Vorsatz erlaubt hat, un-
geachtet solches von ihm nicht angezeiget worden. Allein die
Frage ist immer, warum er sich diese Freiheiten in einem Werk
von dieser Natur, und zumal in einem Artikel, welcher von
der Vetdoppelung der Stimmen handelt, erlaubet hat.
Wird nicht mancher durch das Exempel eines so berühmten

Man-
*) Es ist im §. 260, gezeiget worden, daß die Natur die Accorde ter-
zenweise
hervorbringet. Diese Hervorbringung findet bey dem Pro-
ceß der Einschaltung einer oder zweyer Terzen im eigenilichen Ver-
stande statt, und da nicht das Gegentheil erwiesen werden kann, so
können alle übrige Erklärungen, in sofern solche den Grundbaß zum
Gegenstande baben,
nicht anders als abfurd und ungeschickt seyn.
R

Kurzer Begriff der Lehre vom Grundbaß.
ruͤhmte Capellmeiſter Joh. Seb. Bach, und Saͤtze, die der-
ſelbe gebrauchet hat, koͤnnen ohne Zweifel in aͤhnlichen Faͤllen
auch von andern Tonſetzern gebrauchet werden. Jch nenne
aber allhier unbekanntere Saͤtze theils diejenigen, welche
auf der im §. 275. dargelegten Art von Zuſammenſetzung an
ſich beruhen; *) theils diejenigen, welche aus der Umkehrung
aller Arten von zuſammengeſetzten Accorden, in ſoweit dieſe
Umkehrung ſtatt ſindet, entſtehen, und welche unter den Si-
gnaturen unſeres Generalbaſſes noch nicht befindlich ſind.

§. 277.

Der Hr. Kirnberger ſcheint den ungewoͤhnlichern Saͤtzen
nicht abgeneigt zu ſeyn, wie man theils aus den Tabellen ſei-
ner Kunſt ꝛc. und Grundſaͤtze ꝛc. theils aus den Seite 27.
dieſer Grundſaͤtze ꝛc. vorgebrachten Exempeln ſiehet, er mag
ſie uͤbrigens entſpringen laſſen, wie er will. Nur glaube ich,
daß, wenn dieſe Werke zum zweytenmal gedruckt werden ſoll-
ten, gewiſſe Saͤtze ganz anders, als allhier geſchehen iſt, wer-
den gehandhabet werden. So hat derſelbe zum Exempel
Seite 27. der Grundſatze den Accord c e a f gis h d auf die Art
wie bey Fig. 56, und die Accorde g h d fa und e c h d f g auf
die Art wie bey Fig. 57. behandelt. (Jch uͤbergehe die an-
dern Saͤtze.) Was in dieſer Behandlung vielen hauptſaͤchlich
anſtoͤßig ſeyn moͤchte, iſt in dem erſten Exempel die ſich octa-
virend aufloͤſende None, und in dem zweyten die Folge zwey
unzulaͤßiger Quinten. Jch bin zwar verſichert, daß der Hr.
Kirnberger ſich dieſe Freiheiten mit Vorſatz erlaubt hat, un-
geachtet ſolches von ihm nicht angezeiget worden. Allein die
Frage iſt immer, warum er ſich dieſe Freiheiten in einem Werk
von dieſer Natur, und zumal in einem Artikel, welcher von
der Vetdoppelung der Stimmen handelt, erlaubet hat.
Wird nicht mancher durch das Exempel eines ſo beruͤhmten

Man-
*) Es iſt im §. 260, gezeiget worden, daß die Natur die Accorde ter-
zenweiſe
hervorbringet. Dieſe Hervorbringung findet bey dem Pro-
ceß der Einſchaltung einer oder zweyer Terzen im eigenilichen Ver-
ſtande ſtatt, und da nicht das Gegentheil erwieſen werden kann, ſo
koͤnnen alle uͤbrige Erklaͤrungen, in ſofern ſolche den Grundbaß zum
Gegenſtande baben,
nicht anders als abfurd und ungeſchickt ſeyn.
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[257/0277] Kurzer Begriff der Lehre vom Grundbaß. ruͤhmte Capellmeiſter Joh. Seb. Bach, und Saͤtze, die der- ſelbe gebrauchet hat, koͤnnen ohne Zweifel in aͤhnlichen Faͤllen auch von andern Tonſetzern gebrauchet werden. Jch nenne aber allhier unbekanntere Saͤtze theils diejenigen, welche auf der im §. 275. dargelegten Art von Zuſammenſetzung an ſich beruhen; *) theils diejenigen, welche aus der Umkehrung aller Arten von zuſammengeſetzten Accorden, in ſoweit dieſe Umkehrung ſtatt ſindet, entſtehen, und welche unter den Si- gnaturen unſeres Generalbaſſes noch nicht befindlich ſind. §. 277. Der Hr. Kirnberger ſcheint den ungewoͤhnlichern Saͤtzen nicht abgeneigt zu ſeyn, wie man theils aus den Tabellen ſei- ner Kunſt ꝛc. und Grundſaͤtze ꝛc. theils aus den Seite 27. dieſer Grundſaͤtze ꝛc. vorgebrachten Exempeln ſiehet, er mag ſie uͤbrigens entſpringen laſſen, wie er will. Nur glaube ich, daß, wenn dieſe Werke zum zweytenmal gedruckt werden ſoll- ten, gewiſſe Saͤtze ganz anders, als allhier geſchehen iſt, wer- den gehandhabet werden. So hat derſelbe zum Exempel Seite 27. der Grundſatze den Accord c e a f gis h d auf die Art wie bey Fig. 56, und die Accorde g h d fa und e c h d f g auf die Art wie bey Fig. 57. behandelt. (Jch uͤbergehe die an- dern Saͤtze.) Was in dieſer Behandlung vielen hauptſaͤchlich anſtoͤßig ſeyn moͤchte, iſt in dem erſten Exempel die ſich octa- virend aufloͤſende None, und in dem zweyten die Folge zwey unzulaͤßiger Quinten. Jch bin zwar verſichert, daß der Hr. Kirnberger ſich dieſe Freiheiten mit Vorſatz erlaubt hat, un- geachtet ſolches von ihm nicht angezeiget worden. Allein die Frage iſt immer, warum er ſich dieſe Freiheiten in einem Werk von dieſer Natur, und zumal in einem Artikel, welcher von der Vetdoppelung der Stimmen handelt, erlaubet hat. Wird nicht mancher durch das Exempel eines ſo beruͤhmten Man- *) Es iſt im §. 260, gezeiget worden, daß die Natur die Accorde ter- zenweiſe hervorbringet. Dieſe Hervorbringung findet bey dem Pro- ceß der Einſchaltung einer oder zweyer Terzen im eigenilichen Ver- ſtande ſtatt, und da nicht das Gegentheil erwieſen werden kann, ſo koͤnnen alle uͤbrige Erklaͤrungen, in ſofern ſolche den Grundbaß zum Gegenſtande baben, nicht anders als abfurd und ungeſchickt ſeyn. R

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/277>, abgerufen am 15.05.2024.