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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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des Rameau u. Kirnberg. Grundbasses überhaupt.
"gen; er hat alle Möglichkeiten derselben in seiner Ge-
"walt gehabt, und was mehr als alles wehrt ist, er hat
"sie alle in Ausübung gebracht. Kein Systematiker ist
"im Stande, mit allen Speculationen nach ihm etwas
"Neues hervorzubringen; und doch lassen sich alle seine
"Ausarbeitungen, so verwickelt einige auch Anfangs schei-
"nen mögen, auf einen natürlich fortschreitenden Grund-
"baß, und auf zwey simple Grundaccorde zurückefüh-
"ren, auf den Dreyklang und wesentlichen Septimenac-
"cord; auch wird man in seinen Verdoppelungen nie-
"mals gewahr werden, daß er einen andern Accord zum
"Grunde geleget habe. Wer würde diesen Mann, wenn
"er noch lebte, belehren können, daß er aufs Gerathe-
"wohl gesetzet habe, und daß die Harmonie erst nach ihm
"erfunden oder wenigstens ins Reine gebracht wor-
"den sey?
§. 253.

Mein Gott! warum will man den alten Bach mit Ge-
walt in einen Streit mischen, an welchem er, wenn er noch
lebte, gewiß keinen Theil genommen haben würde? Man wird
doch niemanden überreden, daß derselbe die Lehre von der Har-
monie nach Art des Herrn Kirnbergers erkläret habe. Jch
glaube, daß dieser große Mann sich mehr als einer einzigen
Methode bey seinem Unterricht bedienet, und solche allezeit
nach der Sphäre eines jeden Kopfs, nachdem er solchen mit
mehrern oder wenigern Naturgaben ausgerüstet, geschmeidi-
ger oder steifer, voller Seele oder hölzern fand, eingerichtet
hat. Aber ich bin auch zugleich versichert, daß, wenn noch
irgendwo Anleitungen zur Harmonie in Manuscript von diesem
Mann existiren, man nirgends gewisse Dinge finden wird, die
uns der Hr. Kirnberger für Bachische Lehrsätze verkaufen will.
Sein berühmter Hr. Sohn zu Hamburg müßte doch auch ein
Wort davon wissen.



Erster
des Rameau u. Kirnberg. Grundbaſſes uͤberhaupt.
„gen; er hat alle Moͤglichkeiten derſelben in ſeiner Ge-
„walt gehabt, und was mehr als alles wehrt iſt, er hat
„ſie alle in Ausuͤbung gebracht. Kein Syſtematiker iſt
„im Stande, mit allen Speculationen nach ihm etwas
„Neues hervorzubringen; und doch laſſen ſich alle ſeine
„Ausarbeitungen, ſo verwickelt einige auch Anfangs ſchei-
„nen moͤgen, auf einen natuͤrlich fortſchreitenden Grund-
„baß, und auf zwey ſimple Grundaccorde zuruͤckefuͤh-
„ren, auf den Dreyklang und weſentlichen Septimenac-
„cord; auch wird man in ſeinen Verdoppelungen nie-
„mals gewahr werden, daß er einen andern Accord zum
„Grunde geleget habe. Wer wuͤrde dieſen Mann, wenn
„er noch lebte, belehren koͤnnen, daß er aufs Gerathe-
„wohl geſetzet habe, und daß die Harmonie erſt nach ihm
„erfunden oder wenigſtens ins Reine gebracht wor-
„den ſey?
§. 253.

Mein Gott! warum will man den alten Bach mit Ge-
walt in einen Streit miſchen, an welchem er, wenn er noch
lebte, gewiß keinen Theil genommen haben wuͤrde? Man wird
doch niemanden uͤberreden, daß derſelbe die Lehre von der Har-
monie nach Art des Herrn Kirnbergers erklaͤret habe. Jch
glaube, daß dieſer große Mann ſich mehr als einer einzigen
Methode bey ſeinem Unterricht bedienet, und ſolche allezeit
nach der Sphaͤre eines jeden Kopfs, nachdem er ſolchen mit
mehrern oder wenigern Naturgaben ausgeruͤſtet, geſchmeidi-
ger oder ſteifer, voller Seele oder hoͤlzern fand, eingerichtet
hat. Aber ich bin auch zugleich verſichert, daß, wenn noch
irgendwo Anleitungen zur Harmonie in Manuſcript von dieſem
Mann exiſtiren, man nirgends gewiſſe Dinge finden wird, die
uns der Hr. Kirnberger fuͤr Bachiſche Lehrſaͤtze verkaufen will.
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Wort davon wiſſen.



Erſter
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[239/0259] des Rameau u. Kirnberg. Grundbaſſes uͤberhaupt. „gen; er hat alle Moͤglichkeiten derſelben in ſeiner Ge- „walt gehabt, und was mehr als alles wehrt iſt, er hat „ſie alle in Ausuͤbung gebracht. Kein Syſtematiker iſt „im Stande, mit allen Speculationen nach ihm etwas „Neues hervorzubringen; und doch laſſen ſich alle ſeine „Ausarbeitungen, ſo verwickelt einige auch Anfangs ſchei- „nen moͤgen, auf einen natuͤrlich fortſchreitenden Grund- „baß, und auf zwey ſimple Grundaccorde zuruͤckefuͤh- „ren, auf den Dreyklang und weſentlichen Septimenac- „cord; auch wird man in ſeinen Verdoppelungen nie- „mals gewahr werden, daß er einen andern Accord zum „Grunde geleget habe. Wer wuͤrde dieſen Mann, wenn „er noch lebte, belehren koͤnnen, daß er aufs Gerathe- „wohl geſetzet habe, und daß die Harmonie erſt nach ihm „erfunden oder wenigſtens ins Reine gebracht wor- „den ſey? §. 253. Mein Gott! warum will man den alten Bach mit Ge- walt in einen Streit miſchen, an welchem er, wenn er noch lebte, gewiß keinen Theil genommen haben wuͤrde? Man wird doch niemanden uͤberreden, daß derſelbe die Lehre von der Har- monie nach Art des Herrn Kirnbergers erklaͤret habe. Jch glaube, daß dieſer große Mann ſich mehr als einer einzigen Methode bey ſeinem Unterricht bedienet, und ſolche allezeit nach der Sphaͤre eines jeden Kopfs, nachdem er ſolchen mit mehrern oder wenigern Naturgaben ausgeruͤſtet, geſchmeidi- ger oder ſteifer, voller Seele oder hoͤlzern fand, eingerichtet hat. Aber ich bin auch zugleich verſichert, daß, wenn noch irgendwo Anleitungen zur Harmonie in Manuſcript von dieſem Mann exiſtiren, man nirgends gewiſſe Dinge finden wird, die uns der Hr. Kirnberger fuͤr Bachiſche Lehrſaͤtze verkaufen will. Sein beruͤhmter Hr. Sohn zu Hamburg muͤßte doch auch ein Wort davon wiſſen. Erſter

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/259>, abgerufen am 25.11.2024.