Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite

Anhang etc. Einleitung. Von dem Unterscheid
Wahrheit seyn. Jch werde nicht zugeben, daß mich der Hr.
Kirnberger im Punkt der Wahrheitsliebe an sich übertreffe, ob
ich ihm gleich in Ansehung der Art des Ausdrucks überall den
Vorzug lassen werde. Jch verehre die musikalischen Ta-
lente des Hrn. Kirnberger, und es sollte mir leyd seyn, gewis-
sen Einfällen über die Verschiedenheit unserer Meinungen in
diesem oder jenem Punkt das geringste von meiner Hochach-
tung und Freundschaft gegen denselben aufzuopfern.

§. 249.

Von dem Hrn. Rameau weiß man, daß eine ganze Na-
tion stolz auf ihn ist. Er war nicht allein ein schätzbarer Ton-
künstler, sondern hatte auch andere Wissenschaften studiret.
Er besaß die Gabe, selbst denken und schreiben zu können, und
er schrieb nicht eher, als bis er seinen Gegenstand genugsam
durchgedacht hatte, um nicht in Widersprüche mit sich selbst
zu gerathen. Eine Eigenschaft, vermöge welcher er an jedem
Tonkünstler nur das Gute wahrzunehmen pflegte, und wenn
es auch ein Ausländer war, macht ihm desto mehr Ehre, je
seltner sie angetroffen wird. Er verehrte die zu seiner Zeit be-
kannten großen Tonkünstler Deutschlands und Jtaliens, und
würde der erste gewesen seyn, der dem unsterblichen Joh.
Seb. Bach,
in welchem die verschiednen guten Talente von
hundert andern Musikern vereinigt waren, seine Hochachtung
bezeiget hätte, wenn derselbe nach Paris gekommen wäre.
Nichts weniger als in seine eigene Producte verliebt, hörte er
in den verschiednen musikalischen Zirkeln, zu welchen er um die
Wette eingeladen und so gerne gesehen ward, als man gewisse
Musiker nicht gerne zu sehen pfleget, mit so vielem Vergnügen eine
Cantate von Händeln oder Hassen, als von sich selber. Warum
kann ich nicht von ihm rühmen, daß er auf die mechanische Aus-
feilung des Satzes aufmerksam genug gewesen? Er hat hin und
wieder in seinen Compositionen wider die Reinigkeit der Har-
monie gefehlet. -- Allein wir verlangen ihn auch hierinnen nicht
zum Muster. Genug, wenn er gewisse Wahrheiten zuerst
gelehret hat, welche ein andrer, der weniger wider die Reinig-
keit der Harmonie fehlet, nicht gelehret haben würde. Wir
wollen uns nichts als sein Gutes zu Nutze machen, und in

Absicht

Anhang ꝛc. Einleitung. Von dem Unterſcheid
Wahrheit ſeyn. Jch werde nicht zugeben, daß mich der Hr.
Kirnberger im Punkt der Wahrheitsliebe an ſich uͤbertreffe, ob
ich ihm gleich in Anſehung der Art des Ausdrucks uͤberall den
Vorzug laſſen werde. Jch verehre die muſikaliſchen Ta-
lente des Hrn. Kirnberger, und es ſollte mir leyd ſeyn, gewiſ-
ſen Einfaͤllen uͤber die Verſchiedenheit unſerer Meinungen in
dieſem oder jenem Punkt das geringſte von meiner Hochach-
tung und Freundſchaft gegen denſelben aufzuopfern.

§. 249.

Von dem Hrn. Rameau weiß man, daß eine ganze Na-
tion ſtolz auf ihn iſt. Er war nicht allein ein ſchaͤtzbarer Ton-
kuͤnſtler, ſondern hatte auch andere Wiſſenſchaften ſtudiret.
Er beſaß die Gabe, ſelbſt denken und ſchreiben zu koͤnnen, und
er ſchrieb nicht eher, als bis er ſeinen Gegenſtand genugſam
durchgedacht hatte, um nicht in Widerſpruͤche mit ſich ſelbſt
zu gerathen. Eine Eigenſchaft, vermoͤge welcher er an jedem
Tonkuͤnſtler nur das Gute wahrzunehmen pflegte, und wenn
es auch ein Auslaͤnder war, macht ihm deſto mehr Ehre, je
ſeltner ſie angetroffen wird. Er verehrte die zu ſeiner Zeit be-
kannten großen Tonkuͤnſtler Deutſchlands und Jtaliens, und
wuͤrde der erſte geweſen ſeyn, der dem unſterblichen Joh.
Seb. Bach,
in welchem die verſchiednen guten Talente von
hundert andern Muſikern vereinigt waren, ſeine Hochachtung
bezeiget haͤtte, wenn derſelbe nach Paris gekommen waͤre.
Nichts weniger als in ſeine eigene Producte verliebt, hoͤrte er
in den verſchiednen muſikaliſchen Zirkeln, zu welchen er um die
Wette eingeladen und ſo gerne geſehen ward, als man gewiſſe
Muſiker nicht gerne zu ſehen pfleget, mit ſo vielem Vergnuͤgen eine
Cantate von Haͤndeln oder Haſſen, als von ſich ſelber. Warum
kann ich nicht von ihm ruͤhmen, daß er auf die mechaniſche Aus-
feilung des Satzes aufmerkſam genug geweſen? Er hat hin und
wieder in ſeinen Compoſitionen wider die Reinigkeit der Har-
monie gefehlet. — Allein wir verlangen ihn auch hierinnen nicht
zum Muſter. Genug, wenn er gewiſſe Wahrheiten zuerſt
gelehret hat, welche ein andrer, der weniger wider die Reinig-
keit der Harmonie fehlet, nicht gelehret haben wuͤrde. Wir
wollen uns nichts als ſein Gutes zu Nutze machen, und in

Abſicht
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0254" n="234"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Anhang &#xA75B;c. Einleitung. Von dem Unter&#x017F;cheid</hi></fw><lb/>
Wahrheit &#x017F;eyn. Jch werde nicht zugeben, daß mich der Hr.<lb/>
Kirnberger im Punkt der Wahrheitsliebe an &#x017F;ich u&#x0364;bertreffe, ob<lb/>
ich ihm gleich in An&#x017F;ehung der Art des Ausdrucks u&#x0364;berall den<lb/>
Vorzug la&#x017F;&#x017F;en werde. Jch verehre die mu&#x017F;ikali&#x017F;chen Ta-<lb/>
lente des Hrn. Kirnberger, und es &#x017F;ollte mir leyd &#x017F;eyn, gewi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en Einfa&#x0364;llen u&#x0364;ber die Ver&#x017F;chiedenheit un&#x017F;erer Meinungen in<lb/>
die&#x017F;em oder jenem Punkt das gering&#x017F;te von meiner Hochach-<lb/>
tung und Freund&#x017F;chaft gegen den&#x017F;elben aufzuopfern.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 249.</head><lb/>
              <p>Von dem Hrn. <hi rendition="#fr">Rameau</hi> weiß man, daß eine ganze Na-<lb/>
tion &#x017F;tolz auf ihn i&#x017F;t. Er war nicht allein ein &#x017F;cha&#x0364;tzbarer Ton-<lb/>
ku&#x0364;n&#x017F;tler, &#x017F;ondern hatte auch andere Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften &#x017F;tudiret.<lb/>
Er be&#x017F;aß die Gabe, &#x017F;elb&#x017F;t denken und &#x017F;chreiben zu ko&#x0364;nnen, und<lb/>
er &#x017F;chrieb nicht eher, als bis er &#x017F;einen Gegen&#x017F;tand genug&#x017F;am<lb/>
durchgedacht hatte, um nicht in Wider&#x017F;pru&#x0364;che mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
zu gerathen. Eine Eigen&#x017F;chaft, vermo&#x0364;ge welcher er an jedem<lb/>
Tonku&#x0364;n&#x017F;tler nur das Gute wahrzunehmen pflegte, und wenn<lb/>
es auch ein Ausla&#x0364;nder war, macht ihm de&#x017F;to mehr Ehre, je<lb/>
&#x017F;eltner &#x017F;ie angetroffen wird. Er verehrte die zu &#x017F;einer Zeit be-<lb/>
kannten großen Tonku&#x0364;n&#x017F;tler Deut&#x017F;chlands und Jtaliens, und<lb/>
wu&#x0364;rde der er&#x017F;te gewe&#x017F;en &#x017F;eyn, der dem un&#x017F;terblichen <hi rendition="#fr">Joh.<lb/>
Seb. Bach,</hi> in welchem die ver&#x017F;chiednen guten Talente von<lb/>
hundert andern Mu&#x017F;ikern vereinigt waren, &#x017F;eine Hochachtung<lb/>
bezeiget ha&#x0364;tte, wenn der&#x017F;elbe nach Paris gekommen wa&#x0364;re.<lb/>
Nichts weniger als in &#x017F;eine eigene Producte verliebt, ho&#x0364;rte er<lb/>
in den ver&#x017F;chiednen mu&#x017F;ikali&#x017F;chen Zirkeln, zu welchen er um die<lb/>
Wette eingeladen und &#x017F;o gerne ge&#x017F;ehen ward, als man gewi&#x017F;&#x017F;e<lb/>
Mu&#x017F;iker nicht gerne zu &#x017F;ehen pfleget, mit &#x017F;o vielem Vergnu&#x0364;gen eine<lb/>
Cantate von Ha&#x0364;ndeln oder Ha&#x017F;&#x017F;en, als von &#x017F;ich &#x017F;elber. Warum<lb/>
kann ich nicht von ihm ru&#x0364;hmen, daß er auf die mechani&#x017F;che Aus-<lb/>
feilung des Satzes aufmerk&#x017F;am genug gewe&#x017F;en? Er hat hin und<lb/>
wieder in &#x017F;einen Compo&#x017F;itionen wider die Reinigkeit der Har-<lb/>
monie gefehlet. &#x2014; Allein wir verlangen ihn auch hierinnen nicht<lb/>
zum Mu&#x017F;ter. Genug, wenn er gewi&#x017F;&#x017F;e Wahrheiten zuer&#x017F;t<lb/>
gelehret hat, welche ein andrer, der weniger wider die Reinig-<lb/>
keit der Harmonie fehlet, nicht gelehret haben wu&#x0364;rde. Wir<lb/>
wollen uns nichts als &#x017F;ein Gutes zu Nutze machen, und in<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Ab&#x017F;icht</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[234/0254] Anhang ꝛc. Einleitung. Von dem Unterſcheid Wahrheit ſeyn. Jch werde nicht zugeben, daß mich der Hr. Kirnberger im Punkt der Wahrheitsliebe an ſich uͤbertreffe, ob ich ihm gleich in Anſehung der Art des Ausdrucks uͤberall den Vorzug laſſen werde. Jch verehre die muſikaliſchen Ta- lente des Hrn. Kirnberger, und es ſollte mir leyd ſeyn, gewiſ- ſen Einfaͤllen uͤber die Verſchiedenheit unſerer Meinungen in dieſem oder jenem Punkt das geringſte von meiner Hochach- tung und Freundſchaft gegen denſelben aufzuopfern. §. 249. Von dem Hrn. Rameau weiß man, daß eine ganze Na- tion ſtolz auf ihn iſt. Er war nicht allein ein ſchaͤtzbarer Ton- kuͤnſtler, ſondern hatte auch andere Wiſſenſchaften ſtudiret. Er beſaß die Gabe, ſelbſt denken und ſchreiben zu koͤnnen, und er ſchrieb nicht eher, als bis er ſeinen Gegenſtand genugſam durchgedacht hatte, um nicht in Widerſpruͤche mit ſich ſelbſt zu gerathen. Eine Eigenſchaft, vermoͤge welcher er an jedem Tonkuͤnſtler nur das Gute wahrzunehmen pflegte, und wenn es auch ein Auslaͤnder war, macht ihm deſto mehr Ehre, je ſeltner ſie angetroffen wird. Er verehrte die zu ſeiner Zeit be- kannten großen Tonkuͤnſtler Deutſchlands und Jtaliens, und wuͤrde der erſte geweſen ſeyn, der dem unſterblichen Joh. Seb. Bach, in welchem die verſchiednen guten Talente von hundert andern Muſikern vereinigt waren, ſeine Hochachtung bezeiget haͤtte, wenn derſelbe nach Paris gekommen waͤre. Nichts weniger als in ſeine eigene Producte verliebt, hoͤrte er in den verſchiednen muſikaliſchen Zirkeln, zu welchen er um die Wette eingeladen und ſo gerne geſehen ward, als man gewiſſe Muſiker nicht gerne zu ſehen pfleget, mit ſo vielem Vergnuͤgen eine Cantate von Haͤndeln oder Haſſen, als von ſich ſelber. Warum kann ich nicht von ihm ruͤhmen, daß er auf die mechaniſche Aus- feilung des Satzes aufmerkſam genug geweſen? Er hat hin und wieder in ſeinen Compoſitionen wider die Reinigkeit der Har- monie gefehlet. — Allein wir verlangen ihn auch hierinnen nicht zum Muſter. Genug, wenn er gewiſſe Wahrheiten zuerſt gelehret hat, welche ein andrer, der weniger wider die Reinig- keit der Harmonie fehlet, nicht gelehret haben wuͤrde. Wir wollen uns nichts als ſein Gutes zu Nutze machen, und in Abſicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/254
Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/254>, abgerufen am 25.11.2024.