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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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des Rameau u. Kirnberg. Grundbasses überhaupt.
Grundbaß. Obgleich der Hr. Kirnberger den Septimenaccord
für einen eigenen Grundaccord hält, so wird er dennoch in ver-
schiednen Fällen, seinem Grundsatz zuwider, einen Septimen-
accord von einem andern, ingleichen den Septimenaccord vom
Septimennonenaccord herleiten. Ob er gleich weiß, daß die
Verhältnisse 5:4 und 6:5 nebst ihren Umkehrungen 8:5 und
5:3 consonirende Verhältnisse sind, so wird er nichts desto we-
niger die Sextenaccorde c e a, oder c es as hin und wieder für
dissonirende Sätze halten, und so weiter. Da es bey dem
Kirnbergerschen Grundbaß hauptsächlich darauf ankömmt, daß
der Extrahent selber componiret, und seine eigene Einfälle den
Gedanken des Tonsetzers substituiret, anstatt das vorhandne Ton-
gewebe zu decomponiren, und die gegebnen Zusammensetzungen
in ihre simple Elemente aufzulösen: so möchte denn wohl der
Kirnbergersche Grundbaß kein eigentlicher Grundbaß, sondern
mit seinem wahren Nahmen ein Jnterpolirbaß seyn. Jch
hoffe meine Leser von allem diesen in besondern Abschnitten zu
überführen, und dadurch unwidersprechlich zu zeigen, daß es
zwischen den Schülern des Grundbasses und dem Erfinder des
Jnterpolirbasses zu keiner gelehrten Fehde kommen könne.

§. 248.

Jndem ich den Grund- und Jnterpolirbaß von einander
unterscheiden, und die Ursachen des Unterscheides darlegen
werde, so kann es vielleicht geschehen, daß mir über diesen
oder jenen Artikel des Kirnbergerschen Lehrgebäudes eine An-
merkung entwischt. Jch werde bey diesen Anmerkungen den
Auctor des Jnterpolirbasses niemals aus einem andern Ge-
sichtspunkt betrachten, als welchen der Gegenstand dieser Blät-
ter erfordert. Jch werde so wenig darauf Acht haben, daß er
einer unserer strengsten Doppelcontrapunctisten ist, so wenig
ich, wenn er es nicht wäre, ihn deswegen tadeln würde. Die
Rede ist bloß vom Grund- und Jnterpolirbaß, und von dem-
jenigen was dahin gehöret. Der Hr. Kirnberger hat es sich
zu einem Gesetz gemachet, sich über alles, was die Musik be-
trift, sowohl mündlich als schriftlich mit der größten Freymü-
thigkeit auszudrücken. Diese Freymüthigkeit kann nichts an-
ders als ein Kennzeichen des brennendesten Eifers für die

Wahr-
P 5

des Rameau u. Kirnberg. Grundbaſſes uͤberhaupt.
Grundbaß. Obgleich der Hr. Kirnberger den Septimenaccord
fuͤr einen eigenen Grundaccord haͤlt, ſo wird er dennoch in ver-
ſchiednen Faͤllen, ſeinem Grundſatz zuwider, einen Septimen-
accord von einem andern, ingleichen den Septimenaccord vom
Septimennonenaccord herleiten. Ob er gleich weiß, daß die
Verhaͤltniſſe 5:4 und 6:5 nebſt ihren Umkehrungen 8:5 und
5:3 conſonirende Verhaͤltniſſe ſind, ſo wird er nichts deſto we-
niger die Sextenaccorde c e a, oder c es as hin und wieder fuͤr
diſſonirende Saͤtze halten, und ſo weiter. Da es bey dem
Kirnbergerſchen Grundbaß hauptſaͤchlich darauf ankoͤmmt, daß
der Extrahent ſelber componiret, und ſeine eigene Einfaͤlle den
Gedanken des Tonſetzers ſubſtituiret, anſtatt das vorhandne Ton-
gewebe zu decomponiren, und die gegebnen Zuſammenſetzungen
in ihre ſimple Elemente aufzuloͤſen: ſo moͤchte denn wohl der
Kirnbergerſche Grundbaß kein eigentlicher Grundbaß, ſondern
mit ſeinem wahren Nahmen ein Jnterpolirbaß ſeyn. Jch
hoffe meine Leſer von allem dieſen in beſondern Abſchnitten zu
uͤberfuͤhren, und dadurch unwiderſprechlich zu zeigen, daß es
zwiſchen den Schuͤlern des Grundbaſſes und dem Erfinder des
Jnterpolirbaſſes zu keiner gelehrten Fehde kommen koͤnne.

§. 248.

Jndem ich den Grund- und Jnterpolirbaß von einander
unterſcheiden, und die Urſachen des Unterſcheides darlegen
werde, ſo kann es vielleicht geſchehen, daß mir uͤber dieſen
oder jenen Artikel des Kirnbergerſchen Lehrgebaͤudes eine An-
merkung entwiſcht. Jch werde bey dieſen Anmerkungen den
Auctor des Jnterpolirbaſſes niemals aus einem andern Ge-
ſichtspunkt betrachten, als welchen der Gegenſtand dieſer Blaͤt-
ter erfordert. Jch werde ſo wenig darauf Acht haben, daß er
einer unſerer ſtrengſten Doppelcontrapunctiſten iſt, ſo wenig
ich, wenn er es nicht waͤre, ihn deswegen tadeln wuͤrde. Die
Rede iſt bloß vom Grund- und Jnterpolirbaß, und von dem-
jenigen was dahin gehoͤret. Der Hr. Kirnberger hat es ſich
zu einem Geſetz gemachet, ſich uͤber alles, was die Muſik be-
trift, ſowohl muͤndlich als ſchriftlich mit der groͤßten Freymuͤ-
thigkeit auszudruͤcken. Dieſe Freymuͤthigkeit kann nichts an-
ders als ein Kennzeichen des brennendeſten Eifers fuͤr die

Wahr-
P 5
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[233/0253] des Rameau u. Kirnberg. Grundbaſſes uͤberhaupt. Grundbaß. Obgleich der Hr. Kirnberger den Septimenaccord fuͤr einen eigenen Grundaccord haͤlt, ſo wird er dennoch in ver- ſchiednen Faͤllen, ſeinem Grundſatz zuwider, einen Septimen- accord von einem andern, ingleichen den Septimenaccord vom Septimennonenaccord herleiten. Ob er gleich weiß, daß die Verhaͤltniſſe 5:4 und 6:5 nebſt ihren Umkehrungen 8:5 und 5:3 conſonirende Verhaͤltniſſe ſind, ſo wird er nichts deſto we- niger die Sextenaccorde c e a, oder c es as hin und wieder fuͤr diſſonirende Saͤtze halten, und ſo weiter. Da es bey dem Kirnbergerſchen Grundbaß hauptſaͤchlich darauf ankoͤmmt, daß der Extrahent ſelber componiret, und ſeine eigene Einfaͤlle den Gedanken des Tonſetzers ſubſtituiret, anſtatt das vorhandne Ton- gewebe zu decomponiren, und die gegebnen Zuſammenſetzungen in ihre ſimple Elemente aufzuloͤſen: ſo moͤchte denn wohl der Kirnbergerſche Grundbaß kein eigentlicher Grundbaß, ſondern mit ſeinem wahren Nahmen ein Jnterpolirbaß ſeyn. Jch hoffe meine Leſer von allem dieſen in beſondern Abſchnitten zu uͤberfuͤhren, und dadurch unwiderſprechlich zu zeigen, daß es zwiſchen den Schuͤlern des Grundbaſſes und dem Erfinder des Jnterpolirbaſſes zu keiner gelehrten Fehde kommen koͤnne. §. 248. Jndem ich den Grund- und Jnterpolirbaß von einander unterſcheiden, und die Urſachen des Unterſcheides darlegen werde, ſo kann es vielleicht geſchehen, daß mir uͤber dieſen oder jenen Artikel des Kirnbergerſchen Lehrgebaͤudes eine An- merkung entwiſcht. Jch werde bey dieſen Anmerkungen den Auctor des Jnterpolirbaſſes niemals aus einem andern Ge- ſichtspunkt betrachten, als welchen der Gegenſtand dieſer Blaͤt- ter erfordert. Jch werde ſo wenig darauf Acht haben, daß er einer unſerer ſtrengſten Doppelcontrapunctiſten iſt, ſo wenig ich, wenn er es nicht waͤre, ihn deswegen tadeln wuͤrde. Die Rede iſt bloß vom Grund- und Jnterpolirbaß, und von dem- jenigen was dahin gehoͤret. Der Hr. Kirnberger hat es ſich zu einem Geſetz gemachet, ſich uͤber alles, was die Muſik be- trift, ſowohl muͤndlich als ſchriftlich mit der groͤßten Freymuͤ- thigkeit auszudruͤcken. Dieſe Freymuͤthigkeit kann nichts an- ders als ein Kennzeichen des brennendeſten Eifers fuͤr die Wahr- P 5

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/253>, abgerufen am 25.11.2024.